Die
Geschichte
der
Seydaer
Pfarrscheune.
Mai
2022.
Lebensnotwendige Vorratskammer, in schwerster Zeit
durch „Liebesopfer“ erbaut; Zuflucht, Unglücksort, Materialreserve – vor allem
aber in den letzten Jahrzehnten der Ort vieler Begegnungen von Menschen aller
Generationen, aus Seyda und der weiten Welt bei Spiel, Musik, Gespräch – das
ist die Seydaer Pfarrscheune.
Und
das darf auch so bleiben: Am 6. Mai 2022 kam die Nachricht, dass eine Sanierung
durch großzügige Fördermittel aus dem Leader-Programm und des Kirchenkreises
möglich ist, am 8. Mai fand die erste große Veranstaltung nach Corona statt:
Die traditionelle „Wallfahrt nach Seyda“ – Anlass genug, sich dankbar zu
erinnern und diese kleine Geschichte zu schreiben.
„Sorgt nicht um euer Leben… Seht die
Vögel unter dem Himmel an: …sie sammeln nicht in die Scheunen – und euer
himmlischer Vater ernährt sie doch. …
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes
und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“
Jesus;
Mt 6,25…33
In alten Zeiten hatte der Pfarrberuf viel mit der
Landwirtschaft zu tun. Nicht nur in der Seelsorge für die hier wohnenden
Menschen, die fast alle davon lebten: in den umliegenden Bauerndörfern sowieso,
und in Seyda, dem Ackerbauerstädtchen, wo das Handwerk oft mit dem Nebenerwerb,
selbst ein Stück Acker zu bearbeiten, verbunden war.
Auch
auf dem Pfarrhof sieht man es deutlich an der großen Pfarrscheune. 4 Hufen
Land, also ungefähr 32 Hektar, gehörten zu einer Pfarrstelle, in Seyda war es
durch verschiedene Umstände mehr, heute noch sind es 41 Hektar. Davon sollten
die Kirche wie auch ihre Bediensten unterhalten werden, und dies geschah über
lange Zeit in Naturalien. Als Kind in den 70iger Jahren habe ich es noch selbst
erlebt, mein Vater musste zusehen, wie er die angelieferten Getreidesäcke
umsetzte, über 150 Jahre lang dauerte der Prozess der „Ablösung“ davon.
Es
gab in Seyda (im Kirchenbuch kann man sie noch finden) „Kirchenbauern“ (1717), „Kirchendotal“
(1836), „Pfarrbauern“ (1838 und 1839)
– sie haben auf dem Kirchenland gearbeitet.
Es
war möglich – wenn es auch selten vorkam – dass der Pastor selbst
Landwirtschaft betrieb. Der Seydaer Pfarrhof hatte zwei große Scheunen, war
also geschlossen.
Der
ältesten Generation ist es noch vor Augen, wie der Pfarrer Hagendorf, der 1936
nach Seyda kam, selbst Tiere hielt und das Kirchenland bearbeitete. Dies
geschah gewiss aus der Not heraus, die Kriegs- und Nachkriegszeit brachten. Das
Gehalt kam nicht immer – was man in der Scheune hatte, war da. So gibt es bis
heute die Erzählungen einer beinahe verpassten Hochzeit, wo er vom Feld geholt
werden musste, und der Talar dann schnell übergezogen und in Gummistiefeln der
Ehebund geschlossen wurde… Oder wie die Kinder sich in der Linde versteckten,
weil sie eigentlich nicht auf den hohen Baum klettern sollten, wenn der Pastor
mit dem Pferdegespann vom Feld nach Hause kam.
Das
war die Zeit, wo die Pfarrscheune zuletzt voll landwirtschaftlich genutzt
wurde.
Sie ist jedoch eines der ältesten Gebäude Seydas,
„1710“ steht im Denkmalregister. Das ist eine Schätzung. Im August 1708 war
alles abgebrannt: Pfarrhaus, Kirche, 23 Bürgerhäuser… erst vor dem Amtshaus
machte das Feuer Halt. Der Superintendent Gormann konnte sich mit Frau und
Kindern an der Hand noch durch den Torbogen retten, alles, was er sonst hatte,
fiel in Schutt und Asche. Er wohnte in Gadegast im alten Pfarrhaus dort (der
Amtsbruder bekam dann prompt ein neues 1718), Gottesdienst wurde im Amtshaus
gehalten, bis am 1. Advent die Seydaer Kirche wieder eingeweiht werden konnte,
durch „Liebesopfer“ und „Liebessteuer“ sächsischer Städte war der Wiederaufbau
möglich, und der Superintendent war sehr rührig. Aber ganz gewiss musste er
natürlich auf das zurückgreifen, was er hatte, also die ihm zustehnden Abgaben
(sein „Gehalt“) gut unterbringen. Deshalb muss der Bau der Scheune sehr schnell
erfolgt sein.
Fachkundige Leute erkennen auch an der Form des
Fachwerks das Alter dieses Gebäudes.
Es
war die schnelle Art zu bauen, nach dem Dreißigjährigen Krieg, und meist wurde alles
weiß getüncht, auch die Balken: Damit es wie ein massiver Bau aussah. Man hatte
jedenfalls nicht die Freude an den schwarz-weißen Strukturen wie wir heute, es
war ein Zweckbau.
Immerhin
war es eine Leistung, so eine Scheune in dieser Notzeit aufbauen zu lassen:
Aber eben notwendig! Und es war eine große Scheune für die damaligen Zeiten. An
den Lehmstaken kann man manchmal noch eine Ähre von damals finden – sie waren
viel kleiner als heute, „Dinkel“, „Urgetreide“, die Züchtungen und die Düngung
– das kam erst später, und dann wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts viel
größere Scheunen als vorher gebaut, weil die Erträge sich sprunghaft
steigerten. Damals, 1710, gab es viel weniger zu ernten – das sieht man schon
an den kleinen Ähren - und dafür war es
eine mächtig große Scheune.
Warum die Pfarrscheune in die Denkmalliste des
Landkreises Jessen, die kurz nach der Wende vor 30 Jahren erstellt wurde,
aufgenommen worden ist? Ich habe da eine Vermutung. An der Scheune war ein
Metallschild aus den 80iger Jahren, eine Kennzeichnung für denkmalgeschützte
Gebäude, blau-weiß. Es hatte vier Löcher zum Anbringen. Bestimmt war es doch
für die Kirche bestimmt gewesen – da gibt es jedoch nicht so ein Schild. Ich
bin ja selbst Pfarrer – so ein Schild an einem mehr oder weniger verputzten
Kirchturm zu befestigen wäre für mich auch viel zu kompliziert gewesen. Aber an
so einem Balken der alten Scheune, da geht das ganz leicht, mit vier Nägeln. Ob
das der Grund ist, dass die Scheune in diese Liste kam, weil man nun entdeckte:
O, da ist ja ein Zeichen dran! Wer weiß… Sie ist es jedenfalls wert, die
Scheune, und prägt auf ihre Weise den Pfarrhof wie auch die Ansicht des
Städtchens zwischen Kirchturm und Amtshaus.
Die Pfarrscheune hatte also die Aufgabe, die
Naturalien aufzunehmen, die die Pächter brachten. Der Pfarrer konnte sie dann
verkaufen oder zum Teil auch selbst nutzen, etwa zum Brotbacken, oder zum
Verfüttern an diverse Tiere, die vor allem im Nebengelass Platz fanden. Die
alten Futtertröge sind noch zu finden.
Seyda
war eine der ersten Superintendenturen – Luther hatte bei seiner Visitation
1528, wo er am „Freitag nach Martini“
auch nach Seyda kam, verfügt, dass immer ein „Superintendent“ über etwa
zehn Pfarrer die Aufsicht haben sollte.
Das
erklärt den sehr großen Landbesitz. Ganz Mark Zwuschen gehörte dazu, und bis
vor 100 Jahren, wo die Pfarrstellen noch unterschiedlich dotiert waren – jeder
Gemeindekirchenrat bestimmte selbst über die Höhe des Pfarrgehaltes – da
gehörte Seyda zu den bestbezahltesten Stellen in der ganzen Kirchenprovinz und
konnte sogar mit den Wittenberger Stadtkirchen gut mithalten. Das führte dazu,
dass es jedesmal bei einer Bewerbung eine recht große Auswahl schlauer Leute
gab, die sich für Seyda interessierten, auch, als es dann nach 1877 „Oberpfarre“
wurde, weil die Superintendentur zunächst nach Zahna, dann nach Jessen
abwanderte.
Es ist nicht einfach die Geldgier, wie man vermuten
könnte, sondern es ist doch klar: Da interessiert sich eine Gemeinde wirklich,
da wollen sie einen Pfarrer haben – wo sie bereit sind, auch entsprechend etwas
dafür zu geben.
Jedenfalls
hatte das Folgen, nämlich auch die, dass natürlich eher Pfarrpersonen kamen,
die mehr mit dem Kopf als mit den Händen zu arbeiten gewohnt waren – und die
dann auch die Möglichkeit hatten, jemanden anzustellen für die Arbeit in Hof
und Garten.
Das
blieb so bis 1908, wo Mark Zwuschen verkauft wurde. Der Pfarrer war es einfach
satt, sich immer mit den Bauern herumzuärgern, die sich beschwerten, bei dem
langen Anfahrtsweg auch noch eine entsprechende Pacht bezahlen zu müssen. Die
Lösung schien ganz einfach: Verkaufen – und in Aktien anlegen. 107.000
Reichsmark – das war ein mächtiges Vermögen. Und nun kam das Geld „von
alleine“. Bis 1923 jedenfalls, zur Inflation. Da war alles verloren.
Zum
ersten Mal mussten die Seydaer so etwas wie Kirchensteuer bezahlen, in
nennenswertem Umfang. Bis dahin hatten
die Pachteinnahmen völlig gereicht.
Für die Pfarrscheunen – es gab ja noch zwei – hieß
das, dass es jetzt mehr Platz gab – denn es floss ja – zunächst – Geld, und das
wurde woanders deponiert, und es kamen nicht mehr so viele Naturalien.
Für
die Pfarrstelle bedeutete es, dass – auch im Zuge der allgemeinen Entwicklung
der Angleichung der Pfarrgehälter – heute bekommt jeder Pfarrer und jede Pfarrerin
das gleich Gehalt – für die Pfarrstelle bedeutete es, dass nun nicht mehr so
viele Bewerber kamen…
Pfarrer Hagendorf kam, als Vikar, also eigentlich
noch in der Ausbildung – das war noch nie da! – und er brachte diesen Sinn für
Landwirtschaft mit. Das heißt, er hat sich das wohl hier angeeignet.
Hinter der Pfarrscheune ist der Haak, „eingehegter
Bereich“ – also, wo sie früher von der Burg Sydow her ihre Tiere geweidet
haben, wenn keine Feinde in Sicht waren. Der Haak ist heute eine kleine Straße,
und natürlich wächst Unkraut an der „Grenze“ zwischen Pfarrgrundstück und Haak.
Ich nahm mir also eine Sense und versuchte mein Glück. Eine ältere Frau von
gegenüber, Ingeborg Eißner, kam aus dem Haus, lachte und sagte: „Sie müssen die
Sense in die andere Hand nehmen!“ Und sie zeigte mir, wie es geht. „Sie sind
nicht der erste, ich habe schon mehreren Pfarrern das Sensen gelehrt.“ erzählte
sie mir, und eben auch davon, dass sie als junges Mädchen früh um 5 Uhr einen
Schwad Heu zu mähen hatte, draußen, und es war nebelig, und auf dem
Nachbargrundstück hörte sie einen Mann fluchen, der offensichtlich nicht
zurecht kam… Es war der Pastor Hagendorf, und das junge Mädchen, 15 Jahre alt
damals, zeigte ihm, wie man das macht.
So
hat er sich viel angenommen, sich wohl auch belesen, und so heißt es, dass er
den höchsten Mais hatte – Mais war damals etwas Neues, und zwar noch vor
Chrustschow mit seinem „Würstchen am Stengel“ – und er hatte auch die höchste
Milchquote der 102 Seydaer Milchbauern und einen Tbc-freien Bestand, wie mir
ein Kontrolleur von damals noch 1998 versicherte.
Beim Bau eines Sandkastens für meine Kinder stieß
ich auf Fliesen. Sie waren gestaltet, „Designerfliesen“ würde man heute sagen,
und ich fragte Meister Horst Hirsch, geb. 1929 – der sofort Antwort wusste:
„1947 hat Pastor Hagendorf seinen Kuhstall gefliest!“ In diesen Zeiten!
Offensichtlich in der Scheune, die heute nicht mehr steht, sondern in den
50iger Jahren abgerissen worden ist, und die das Ensemble einmal schloss.
Da war der Zweite Weltkrieg schon zu Ende, der
Pfarrer war durch die Nazis inhaftiert gewesen und hatte nur wie durch ein
Wunder überlebt. In dieser Zeit, zum Kriegsende, kam ein „Flüchtlingspastor“
nach Seyda. Seine Frau war hoch schwanger, und sie versteckte sich vor den Russen
in der Pfarrscheune, und zwar hinter der hohen Luke an der Südostecke. Ihr Mann
war sehr mutig, er ging zu den Russen und holte von ihren Gelagen die Reste, um
den Frauen und Kindern auch in der Nachbarschaft, die sich ebenso versteckt
hielten, davon zu bringen.
Was sich also noch an landwirtschaftlichem alten
Gerät findet, wird – wenn es nicht von woanders hergetragen wurde – noch von
Pfarrer Hagendorf stammen. Nach dem 17. Juni 1953 versteckte er die
Streikleitung von Wolfen und Bitterfeld und half, sie sicher aus der DDR
herauszubringen. Weil dies danach entdeckt wurde, kam er ins Gefängnis und
wurde zum 7. Oktober 1954, also zum 5. Republikgeburtstag, wegen guter Führung
entlassen – jedoch mit schweren Auflagen: Den Kreis Jessen sollte er nicht verlassen,
und reden sollte er auch nicht mehr. So blieb ihm nur die Flucht. Seine Frau
kam nach, mit den 5 Kindern.
Auch
davon finden sich Spuren in der Pfarrscheune, denn sie konnten ja – wie so
viele andere – nichts wirklich mitnehmen. So werden einige der schönen
Holzstühle aus dem 30iger Jahren von Hagendorfs stammen.
Die Scheune, nun seit 1999 Veranstaltungsort, hat ja
ein ganz bemerkenswertes Arsenal an Sitzgelegenheiten. An anderer Stelle würde
man sich vielleicht nicht mehr auf solch einen alten Stuhl setzen, aber in der
Scheune, da geht das eben.
In
ganz großer Anzahl sind Stühle aus dem Schützenhaus, eine Spende von Familie
Arndt. Sie sind vermutlich nun fast 100 Jahre alt, aus der Anfangszeit, also
zwischen den Weltkriegen, und sie zeugen von der Seydaer Handwerkskunst, so
fein, wie sie gemacht sind, mit Profilierungen. Manches Glas Bier und Wein
wurde auf ihnen getrunken, manche Spuren kann man wohl davon entdecken – und an
die vielen Feiern denken, die es mit ihnen gegeben hat, im Schützenhaus.
Dann
gibt es noch eine andere Generation Gastwirtsstühle, sie sind ein wenig
einfacher gehalten, vielleicht nach 1945, aber doch auch noch stabil.
Und
dann kommen jene, die vielleicht Pfarrer Hagendorf zuzuschreiben sind, und die
dann zuerst in den in den 50iger Jahren neu geschaffenen Gemeinderäumen genutzt
wurden. Der Religions- und Konfirmandenunterricht war aus der Schule verbannt –
und die Gemeinde musste Möglichkeiten schaffen, so wurde die Pfarrwohnung
verkleinert (mit der Folge, dass danach nur noch Junggesellen kamen, die mit
wachsender Familie wieder gingen, oder ein Pfarrer, der das „Familienprogramm“
schon hinter sich hatte).
Auf
diesen alten schönen Stühlen kann man also sitzen, mit kunstvollen Bohrungen,
damit auch ein schwitziger Konfirmand nicht „anklebt“.
Nur
noch ein Holzstuhl ist da, der in der „Winterkirche“ eben auch im Gemeinderaum
zum Gottesdienst genutzt wurde, etwa 1965 bis 1995, 30 Jahre lang. Da bin ich
ein wenig schuld daran, sie waren dann abgesessen, und ich hatte die Idee,
jeder Konfirmand könnte doch seinen Stuhl einmal streichen – wohl in der leisen
Hoffnung, wenn jeder seinen Stuhl hat, dass der dann auch sonntags besetzt
wäre… Jedenfalls haben das wohl die meisten Stühle nicht überlebt.
Der
Hauptgrund aber des Wechsels war, dass ich 33 bunte Klappstühle besorgte. Der
Superintendent meinte damals: „Wie in der Pizzeria!“ Ich fand sie ganz
fröhlich. Ich brachte sie aus dem Münsterland mit, in einem Skoda. Mit im Auto
mit den 33 Stühlen waren noch acht alte Blechblasinstrumente, die ich unterwegs
„aufgelesen“ hatte, der Grundstock des Posaunenchores; und ein Mädchen, was ich
später geheiratet habe. Eine tolle Fahrt!
Die
Stühle sind nicht mehr ganz vollzählig, tatsächlich haben schwerere Personen
ihre Spuren hinterlassen – aber sie meisten stehen heute in der Kapelle in Mark
Zwuschen. Die derzeitigen Stühle im Gemeinderaum wurden von einem Mazedonier
gestiftet, Herrn Bozinovski – aus Mark Zwuschen.
Damit ist die Vielfalt der Stühle in der Pfarrscheune
jedoch noch längst nicht zuende beschrieben. Es ist ein Gedicht, sie alle
einmal anzuschauen, wie kunstvoll sie gebaut sind.
Die
größten, massivsten kommen von der Partnergemeinde aus Hessen, die wir
regelmäßig mit einem großen Reisebus besuchten, und auf das „Wollet ihr sie
mitnehmen?“ habe ich natürlich sofort „Ja!“ gesagt, und im „Bauch des Busses“
war genug Platz. Sie stehen nun in der ersten Reihe und halten jedes
Schwergewicht aus.
Dann
gibt es noch Küchenstühle verschiedener Art, auch aus meinen Kindertagen und
denen meiner Kinder – und Stühle aus dem Seydaer Kindergarten (manchmal steht
darunter der Tag der Anschaffung, 9.10.1966) – also mancher hat schon darauf
gesessen, als er noch ganz klein war – sie wurden einmal ausrangiert, und da haben
wir sie bekommen, wie auch einige Schulstühle aus DDR-Zeiten, die Erinnerungen
wecken.
Die meisten Stühle sind 2019 gespendet worden, von
der methodistischen Gemeinde Abtsdorf, die ihre Kapelle aufgeben musste. Sie
sind stapelbar, das ist praktisch, und haben sogar jeder ein Sitzkissen.
Thomas Schudde baute die lange schöne Bank an der
Nordseite. Die Bierzeltgarnituren stiftete der CVJM und der Zirkus Hein. Die
weißen Tische sind aus Christenlehrezeiten und haben viele „Einträge“ von
Teilnehmern.
Zwei ganz alte Stühle, wohl mindestens 200 Jahre
alt, habe ich restaurieren lassen, und sie stehen jetzt im Gemeinderaum. Sie
waren mit vielem anderen in der Pfarrscheune zu finden, die noch vor der Wende
zur „Baureserve“ des Kirchenkreises erklärt worden war. Pfarrer Podstawa, mein
Vorgänger, ist in seinem ersten Beruf Schlosser gewesen, und auf seiner
„Westreise“ 1988 zu seiner Tochter in Hanau brachte er, vermittelt durch die
Partnergemeinde, eine Schnellbaurüstung mit. Mit dieser Rüstung konnte er viele,
ja fast alle Kirchen im Jessener Land mit eigener Hand einrüsten – zum Beispiel
den Seydaer Kirchturm nur mit Frau Gertraude Lenz zusammen – und damit vor dem Verfall retten.
Es gab Fördergeld, und die Rüstung brachte einen gehörigen Eigenanteil…
Diese
Tätigkeit hatte zur Folge, dass er für das „Bauen“ zuständig wurde – und
akribisch, wie es zu DDR-Zeiten gelernt war, alles aufhob, was vielleicht noch
einmal Verwendung finden könnte: Dachziegeln, Mauersteine, Dachpappe… eine
ganze Scheune randvoll.
Aber nun, 1999, wurde das alles nicht mehr
gebraucht, denn die Firmen wollten nicht altes Material verbauen – es war ja
genug da, passend, in reicher Auswahl.
Also
gab es eine große Entrümplungsaktion. Lange hat das gedauert. Und dann, unter
Anleitung meines Schwiegervaters Eckhard Gräbitz und mit Hilfe vieler
Jugendlicher, unter ihnen Thomas Schudde, Carsten Carius, Christian Freitag und
Andreas Oertel, wurde die Scheune „ausgegossen“. Der Fußboden war ja sandig –
da konnte man wenig machen. Aber nun bekam sie einen stabilen Fußboden, über
die ganze Fläche. Den Eintrag „1999“ kann man noch finden“, und die kleine Hand
von Tim Gräbitz, der damals 9 Jahre alt war und auch mitwirkte.
Und dann gab es das erste „Scheunenfest“. Ich hatte mal
eben – und für 20 Monate – zwei neue Dörfer dazubekommen, Linda und Neuerstadt,
und zog mit meinem Gemeindebrief von Haus zu Haus. In Neuerstadt wurde ich
hereingebeten – da spielte eine Band – und sie kam auch gleich nach Seyda!
Die Pfarrscheune hat heute ein Asbestdach. „Asbest“
– „unbrennbar“ – das war mal ein ganz moderner Baustoff, heute schreckt jeder
wegen des Krebsrisikos bei der Verarbeitung und der hohen Entsorgungskosten
zurück. Aber dieses Asbestdach hat die Pfarrscheune wohl einmal vor dem
endgültigen Aus gerettet; vielmehr der Mann, der das bewerkstelligte: Pfarrer
Schaeper, der 1978 nach Seyda kam. Ein großer Mann, und eben auch handwerklich
begabt. Er deckte – mit eigener Hand, aber sicher auch mit Hilfe einiger
Kirchenältester und Jugendlicher – die alten, schon zum Teil herumfliegenden
Ziegeln vom Dach ab und brachte dieses Asbestdach auf. Dabei schnitt er sich
einen Finger ab! Von der Versicherungssumme legte er einen Pool im Garten an.
Einen ganz tiefen, denn er war eben selbst sehr groß! Und damit das Wasser sich
erwärmte, leitete er es mit einer selbst gebauten Schlauchleitung über das
Asbestdach… Der Pool wurde ein beliebter Treffpunkt, auch für einen
Frauenkreis. Er ließ mich, als ich 1993 kam, gleich an „Massentaufen“ denken,
aber beim Ausräumen des Schuttes musste ich feststellen, dass er unten
schon zerstört war und aufgrund seiner
Größe eine Gefahr für Kinder und Katzen – in dieser Zeit war auch der Kiessee
als Badesee in voller Blüte – so wurde ein Berg daraus- was ja hier auch etwas
Seltenes ist.
In der Zeit von Pfarrer Schaeper kletterte dann der
Kirchenrat Otto Dümichen mit verbundenen Leitern bis auf den Giebel der Scheune
und brachte dort ein Storchennest an, sogar die Zeitung berichtete darüber –
Herr Emil Motl schrieb einen Artikel.
Tatsächlich wurde ich, als ich im August 1993
herkam, jeden Morgen von fröhlichem Storchenklappern geweckt – leider nur in
diesem einen Jahr, trotz mancher Bemühungen.
Als ich kam, war das
nicht sofort allen klar, dass das Pfarrhaus wieder besetzt war, denn es war
noch Baustelle, und des öfteren bewegte sich das quietschende Scheunentor, denn
es gab dort vieles zu finden…
Ich
ging hinunter, öffnete das Tor weit, grüßte und frage: „Was möchten Sie haben?“
– Nach einigem Zögern kam: Die Kreissäge, dieses Teil, und dieses Teil. Ich
sagte: „Drei Sachen. Gut! Dafür kommen Sie dreimal in die Kirche!“ Das
Einverständnis fand sich schnell. Als es dann konkret wurde, kam die Frage: „Soll ich da putzen kommen?“ – „Nein“, sagte
ich, „einfach zum Gottesdienst.“ Die Frau hielt Wort! Und tatsächlich! Sie kam
dann immer wieder, fast jeden Sonntag – bis zu ihrem Tod.
So
hat die Pfarrscheune also durchaus vielfältig zum Gemeindebau beigetragen…
1993 kamen auch Russlanddeutsche nach Seyda. Ein Leben
lang waren sie das Gärtnern gewohnt, und so waren sie froh, vom Pfarrgarten ein
Stück abzubekommen – (und ich auch). Russischen Wein pflanzte Herr Biber an die
Pfarrscheune, das sah immer sehr schön aus, und bis heute ist es „Bibers
Garage“. Später kam dann sein Sohn mit seiner Frau und den Kindern, und zu
Besuch auch die Verwandtschaft aus der Ukraine, und sie halfen in einem heißen
Sommer mit, ein Elektrokabel zur Scheune zu legen, ordentlich und tief verlegt:
Seit dem gibt es Strom, und die Nutzung als Veranstaltungsort wurde möglich.
1999 war der Anfang mit jenem Scheunenfest. Kurz darauf
kam gleich hoher Besuch, der Generalsekretär des CVJM Deutschland, Ulrich
Parzany. Der CVJM Seyda hatte den 1. Preis in einem Gründerwettbewerb gewonnen!
Da das CVJM-Häuschen bei diesem Anlass viel zu klein war, wurde die Scheune
genutzt, wobei ja auch die Veranstaltungen dort maßgeblich vom CVJM
mitgestaltet wurden. Die Fahne mit dem roten Dreieck hoch oben in den Balken zeigte
es an.
Die Kinderkirchenferientage haben 1995 in Gadegast
begonnen. Eigentlich war die Idee, herumzureisen – so waren wir auch in Mark
Zwuschen und haben dort schon einmal
1996 eine Kirche – aus Bettlaken und mit einem alten Entsafter als Glockengeläut
– gebaut – aber der „Umzug“ erwies sich als schwierig, einen LKW mussten wir
organisieren, um Kühlschränke und was man noch alles braucht für solch ein
Kinderzeltlager (es waren über 60
Kinder) heranzuschaffen.
Da bot sich dann Seyda an, die Pfarrscheune – ideal,
ein großer Raum, und doch im Freien – aber vor Regen geschützt. Man konnte die
Tür schließen und selbst mitten am Tag einen Film schauen, auf ein großes
Bettlaken an der Wand. Man hatte genug Platz für Spiel, Theater, Gespräch,
Basteln… So ist die Pfarrscheune all die Jahre lang der Ort der
Kinderkirchenferientage geworden, ein buntes Zeltlager für Kinder der 1. bis 6.
Klasse, auch mit Kletterwand, Ponies, Stadtspiel, Nachtwanderung,
Wasserrutschbahn und allem, was dazu gehört; und die Helfer waren schon selbst
als Kinder dabei, Jugendliche und Erwachsene aus der Gemeinde; oft auch von außerhalb, wie Sabine Hoffmann aus
Elster, die viele Jahre sehr tatkräfitg mitwirkte, bis sie ein eigenes
Zeltlager in Elster begann.
Das
Quietschen des Tores war das Signal: Jetzt geht es morgens los! Und abends:
Jetzt geht’s ins Bett.
Viele auch experimentelle Spiele wurden hier
ausprobiert, zum Beispiel ein ganz großes Jenga (wo man einen großen Mann von
Format braucht, damit keiner „erschlagen“ wird), einen übergroßen „heißen
Draht“, wo es klingelt, wenn man beim Langfädeln in Berührung kommt; ein
besonderes Mikado, wo bunte Bällchen in eine Tonne fallen, wenn man die Stäbe
„ungeschickt“ herauszieht - und vieles
andere. Sie wurden dann auch etwa beim Kirchentag in Ferropolis oder bei den
Sommerfesten des Diest-Hofes vom CVJM präsentiert.
Als
es das noch nicht überall gab, hatten
wir schon ein Trampolin, im Winter in, im Sommer außerhalb der Scheune, zur
Freude vieler. Es bleibt ein Wunder, dass immer alles da war, was wir brauchten
– und noch viel mehr dazu.
Jedes Jahr wurde ein großes Bettlaken mit dem Thema
der Kinderkirchenferientage bemalt, so dass bald die ganze Scheune davon bunt
geschmückt war. Das gefiel nicht jedem, über Nacht waren sie dann verschwunden
– und wieder Platz für etwas anderes. Ein selbstgemalter großer Regenbogen ist
jetzt wieder aufgetaucht – in Erinnerung an die Aufführung eines Musicals
„Arche Noah“; der Bogen hat uns auch in Corona-Zeiten Hoffnung gegeben, dass es
einmal vorbei sein wird: Nun leuchtet er wieder, inzwischen in zwei Teilen
rechts und links von der Bühne: und das Stück im Himmel muss man sich dazu
denken.
Ja, eine schöne Bühne ist dazugekommen, gebaut von
Herrn Wußmann, einem Bauingenieur – also selbst konzipiert und hergestellt in
der Holzwerkstatt der Öko-Tour-Sanierungsgesellschaft. Sie hat viele gute
Dienste geleistet. Eingeweiht wurde sie zum Lindenfest im Jahr 2000, da stand
sie auf dem Kirchplatz; zum Krippenspiel auch mal in der Kirche, nun aber seit
vielen Jahren an ihrem festen Platz in der Scheune.
Auf diesen „Brettern“ konnten sich manche
Nachwuchsbands vorstellen, so läuft das Scheunenfest bist heute: Dazu kommen
dann erfahrene Musiker wie „Whreeds“ aus Wittenberg oder „Saitenhieb“ oder
„Lady Killers“. Und nicht zu vergessen DJ Christian Freitag und seine
Nachfolger mit toller Tanzmusik bis in die Nacht – viele Blumensträuße habe ich
da immer in der Nachbarschaft verteilt, weil es doch ein wenig später wurde.
Hier wurde und wird auch Theater gespielt, bei den
Kinderkirchenferientagen gehört das dazu. Aber auch mit polnischen Jugendlichen
führten wir zum Beispiel die Geschichte von David in zehn Akten (einschließlich
Bathseba) auf, mit selbstgebastelten Marionetten. Vielleicht gibt es ja bald
ein ukrainisch-deutsches Puppenspiel…
Auffällig, wenn man die Scheune heute betritt, ist
der große mittlere Stützpfeiler: Denn er ist auf Mannshöhe abgesägt. Das untere
Stück (!) fehlt!
„Fachwerk
fällt langsam!“ beruhigte mich schon der erste Bauingenieur, mit dem ich es in
Seyda zu tun hatte… Es hat ja gehalten bis heute. Offensichtlich war der Balken
einem meiner Vorgänger mal beim Einparken seines Autos im Wege gewesen…
In
Pfarrer Schaepers Zeiten wurden zwei Garagen mit der Einfahrt zum Haak hin in
die Scheune eingebaut. Eine davon soll jetzt wieder weggenommen werden, um den
Raum zu vergrößern. Die andere wurde durch Herrn Jakob Biber (jun.) genutzt,
was man noch an der kunstfertigen Türöffnung erkennen kann. Er war ein großer
Tüftler und Konstrukteur. Lange vor den Windrädern hatten wir schon ein
Flugzeug auf dem Berg an einem hohen Masten, was durch den Propellerschlag eine
Lampe zum Leuchten brachte.
An der Scheune haben Generationen gebaut und sie damit
erhalten. Der Giebel ist einmal aufgemauert worden, wohl nach einem Brand?
Jedenfalls sind noch etliche angekohlte Balkenteile zu sehen.
1912,
so wurde es mir 90 Jahre später von einer alten Frau, Helga Oertel aus dem
Haak, erzählt, hat die Pfarrscheune gebrannt, es war unklar, ob durch
Brandstiftung. Die Großeltern hatten ihre Ernte aus Mark Zwuschen dort
eingelagert. Die Versicherung zahlte nicht für alles, die nicht verbrannten
Garben wurden aussortiert und nicht berechnet, obwohl das Vieh sie nicht mehr
fraß.
Immer wieder einmal musste ein Feld ausgemauert
werden, aber es sind noch etliche alte Lehmstaken da, und sie sollen auch
erhalten bleiben. Andreas Kirsten hat sich darauf spezialisiert, die Fachen
auszubessern und zu streichen.
2020
kam es plötzlich zu Schmierereien in ganz Seyda, und auch die Pfarrscheune
wurde davon nicht verschont. Was tun? Es gab viele Ideen: Von „Ignorieren“ bis
„Einen Sprühkurs anbieten“ war alles dabei. Eins war klar: Es musste dem
entgegengetreten werden, sonst würde es immer mehr werden. Also wurde es sofort
entfernt. Und es ist auch – an der Pfarrscheune von außen – nicht wieder
vorgekommen – obwohl sie wieder in der gleichen Straße unterwegs waren.
Eine
Erinnerung gibt es noch, in der zweiten Garage, die jetzt abgerissen werden
soll, also innen. Da stand die Tür offen, das war vielleicht verführerisch.
Viele sind gekommen, aus der Nähe und der Ferne, und
sind in der Scheune zu Gast gewesen.
Da
kam ein Anruf aus Wittenberg: „Wir haben hier so viele Chöre, könnt Ihr nicht
einen nehmen?“ – Und dann kam der Valparaiso University Chorale, aus der Nähe
von Chicago von der größten lutherischen Universität der USA, über 50
Studentinnen und Studenten – und sie waren begeistert. Das war für sie
„Deutschland“, so eine alte Scheune, die Dörfer hier, die Gastfreundschaft. Und
sie sind immer wieder gekommen, auch, nachdem sie bekannt wurden und eine
Partnerschaft mit dem Thomanerchor aufgebaut hatten – zuerst kamen sie immer
nach Seyda. Und selbst, als sie dann zum Festakt der Bundesregierung am 31.
Oktober 2017 in der Schlosskirche zu „500 Jahre Reformation“ sangen, waren sie
in Seyda. Wir zogen durch die Stadt, von der Schule zur Kirche, mit der neuen
Glocke, auf der man das auch lesen kann.
So
gab es Gäste aus aller Welt, aus Polen seit 1995 (ein Deutsch-Polnischer
Jugendaustausch über viele Jahre, bis heute gibt es Kontakte), aus den USA
(seit dem 11.9.2001, wo der erste Besuch – aus Seattle – kam, dann aus
Baltimore, Chicago, Florida), aus Tschechien seit einigen Jahren (Jugendgruppen
der „Böhmischen Brüder“, zunächst aus Prag, dann aus Melnik); am längsten dabei
ist die Partnergemeinde aus Hessen, seit der Wende gibt es regelmäßige
Begegnungen; aus Tansania (der Kirchenkreis hat eine Partnerschaft mit dem
Urwaldhospital in Lugala); aus Dänemark, wo uns Konfirmanden aus Haderslev
besuchten, auf Anregung ihrer Bischöfin Marianne Christiansen, die selbst jedes
Jahr nach Gentha kommt)… Und immer sind es natürlich Begegnungen mit Menschen
von hier, auch für Gemeindenachmittage und Gemeindecafé nach der Kirche wurde
die Scheune im Sommer genutzt, es gab Gemeinde- und Chorfeste auch mit den
Chören der Umgebung, der Jessener
Gymnasialchor gab hier sein Schuljahresabschlusskonzert; es gab Filmabende zu
zeitgenössischen und regionalen Themen (z.B. „Der Störenfried“ über den Pfarrer
Brüsewitz aus Mitteldeutschland, oder „1000 Mark Belohnung“ über das Verstecken
von Goerdeler, der nach dem Attentat 1944 Reichskanzler werden sollte, in
unserer Region). Und es wird das alle nun, nach Corona, weiter geben.
Die
Verantwortlichen von Leader, eines europäischen Förderprogramms, wurden darauf
aufmerksam und meinten: „Das könnte gefördert werden!“ Ganz lange dauerte der
Antragsprozess, schließlich waren wir auf Platz 23 des Landkreises… Es waren viele
hundert Seiten Genehmigungen einzuholen, denn nun sollte es ja offiziell keine
„Lagerscheune“, sondern ein „Veranstaltungsort“ sein. Der Kirchenkreis hat uns
sehr unterstützt, ein Viertel des Baulastfonds eines Jahres, der von den
Pachteinnahmen des ganzen Kirchenkreises gespeist wird, soll in das
Erneuerungsprojekt fließen.
Der
Hauptanteil aber kommt von „Leader“, also Europa: Menschen von Norwegen bis
Griechenland, von Portugal bis nach Estland tragen dazu bei, nun unsere
Pfarrscheune zu sanieren – auf dass sie offen steht für viele fröhliche
Begegnungen, auch in der Zeit, die kommt.