Neue Heimat Seyda.

Eine Erinnerung an die Menschen,

die durch den Krieg ihre Heimat verloren.

 

Gegen 5 Uhr früh klopfte es am 8. Mai 1945 an unsere Haustür in Zuckmantel (Sudetenland). Es hieß: „Aufstehen, schnell, schnell, zieht Euch an, Ihr müsst zur Arbeit! Ihr braucht nur Arbeitssachen!“ Vor uns standen tschechische Soldaten mit Gewehren.

Meine Mutter, meine Schwester und ich folgten den Anweisungen. Wir zogen unsere zwei kleinen Kinder an und verließen unser Haus mit zwei Kinderwagen. Fast der ganze Ort war auf dem Gerichtshof versammelt. Wir hatten nichts gegessen und getrunken. Die Kinder hatten Hunger.

Meine Schwester sagte zu einem Soldaten, dass wir noch einen Eimer Tabak im Haus hätten. Er könnte ihn bekommen, wenn wir noch mal nach Hause gehen und etwas Milch für die Kinder holen dürften. Er ließ sich überreden, und sie kam mit einem Brot, einer Milchkanne voll Gries und für jedes Kind ein Kopfkissen zurück.

Meinem Bruder gelang es ebenfalls, noch einige persönliche Dinge, unter anderem ein paar Fotos, aus unserem Haus zu holen. Am Nachmittag wurden wir in Viehwaggons ohne Dach verladen und fuhren Richtung Dresden. In Bad Schandau war die „Reise“ zu Ende. Meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich gingen zu Fuß nach Dresden, mit den Kindern in den Wagen. Es war eine Qual. Begleitet wurden wir von der Familie Völkel, die wir aus Zuckmantel kannten. Wir übernachteten in einer Scheune.

Die Transporte endeten meistens in den Flüchtlingslagern. Mein Bruder wollte nicht ins Lager, er hatte davon viel Schlechtes gehört und meinte: „ Wir suchen uns selbst eine Unterkunft!“ So liefen wir wohl mehrere Tage, bis wir nach Schweinitz kamen. Wir waren erstaunt über die Pfirsichplantagen: so etwas kannten wir aus unserer Heimat nicht. In Jessen bei der Ziegelei übernachteten wir wieder in einem alten Schuppen. Es war inzwischen Juli/August 1945. Wir liefen weiter bis Seyda und blieben vor der Fleischerei Stockmann stehen. Man schickte uns in das Barackenlager hinterm Schützenhaus. Betten gab es auch dort nicht. Wir schoben ein paar Tische zusammen und schliefen darauf. Meine Mutter wollte nicht, dass wir dort bleiben. Aber ich erkrankte wie viele andere im Lager an Typhus, und sie pflegte mich gesund.

So verbrachten wir mehrere Wochen im Lager, bis wir ein Zimmer bei „Trommelschulze“ in der Neuen Straße zugewiesen bekamen. Wir wohnten zu fünft in einem kleinen Zimmer, eine kleine Kammer diente als Küche. Das Holz, was wir uns im Winter aus dem Wald holten, war meistens nass und taugte nicht zum Heizen. Der Ofen hat geräuchert.

Nach etwa einem Jahr wurde die Wohnsituation unerträglich. Wir konnten so nicht weiter leben und fragten bei der Stadt nach einer anderen Wohnung. Ernst Dietz war damals in der Stadtverwaltung. Er bot uns an, in eine Baracke des ehemaligen Lagers zu ziehen, wenn wir uns die Wohnung selbst herrichten und dem Hausmeister Bärwald bei seiner Arbeit helfen. Das Lager war inzwischen aufgelöst, und in der oberen Baracke war die Berufsschule eingezogen.

Wir quartierten uns gleich am Eingang rechts in die ehemalige Führerbaracke ein. Zwei Zimmer und eine Küche – daraus bestand unsere neue Wohnung. Das Wasser mussten wir von oben aus der Wirtschaftsbaracke holen. Im Winter war es besonders beschwerlich. Zuerst musste der Schnee weggeräumt werden, erst dann konnten wir Wasser holen. Dafür war es im Sommer sehr angenehm, dort zu wohnen. Wir konnten uns sogar Ziegen halten. Es war herrlich, wenn im Juni die Akazien blühten. Mein Neffe kletterte dann immer auf die Bäume und aß die Blüten.

Nach einigen Jahren zogen wir in die Baracke gegenüber. Meine Arbeit war damals, die Baracke, in der sich die Berufsschule befand, sauber zu halten, im Winter zu heizen und das Gelände zu pflegen. Später erhielt ich Arbeit in der Küche des Pflege- und Altersheimes. 25 Jahre habe ich in den Baracken des ehemaligen Lagers gewohnt.“

 

Maria Kosa aus Seyda, 1945 25 Jahre alt

 

 

 

Meine Großmutter musste im Frühsommer 1945 ihren Wohnort in Franzensbad, in den Sudeten, verlassen: an der Hand zwei kleine Jungen, meinen Onkel, 3 Jahre alt, meinen Vater, knapp 5. Aus dem Haus, was vor wenigen Jahren erst gebaut worden war, heraus auf die Straße. In großer Eile fanden die notwendigsten Dinge Platz auf einem Kinderwagen, der jedoch nach wenigen Metern aufgrund der großen Last zusammenbrach und die Räder verlor. So wurde er hinterher geschliffen. Es ging in eine ungewisse Zukunft: nach Westen. Mein Großvater war 1941 gefallen, als mein Vater ein Jahr alt war; mein Onkel war noch nicht geboren.

 

Wohl keine Familie gibt es in unserer Stadt und in den umliegenden Dörfern, in die nicht durch den Zweiten Weltkrieg großes Leid gekommen ist. Viele Männer, Väter, Söhne und Brüder sind gefallen. Viele haben auch die Heimat verloren.

 

Die Heimat – oft mussten sie innerhalb kürzester Zeit Haus und Hof verlassen, den Ort, in denen ihre Familie über Jahrhunderte zu Hause war, in dem sie verwurzelt waren in der Dorfgemeinschaft, mit der Landschaft, wo sie jeden Stein und jeden Winkel kannten, den Ort, wo die Vorfahren beerdigt liegen, wo die Kirche steht, in der sie getauft, konfirmiert, getraut worden sind. Sie wurden herausgerissen aus dem vertrauten Lebensumfeld – in eine grausame Wirklichkeit: auf die Straße, oft noch bei winterlichen Temperaturen, in die Rechtlosigkeit – es war Krieg, und ein Menschenleben zählte nicht viel, in die bittere Armut, verbunden mit Hunger und der Rastlosigkeit, keinen Ort zu haben, wo man zu Hause ist, wo man hin soll.

So ist es vielen ergangen, Millionen; so geht es heute vielen Menschen auf dieser Welt. Hier soll an die erinnert werden,

 

die in unsere Stadt kamen, die hier Zuflucht und neue Heimat fanden.

 

Die ersten, die in unsere Orte kamen, waren die „Bombenflüchtlinge“, aus den großen Städten. Sie flohen vor dem mörderischen „Luftkrieg“. Die großen Bomberverbände waren auch über Seyda zu sehen, bei Tag und bei Nacht flogen sie in den letzten Monaten des Krieges: nach Berlin, nach Dresden.  Man konnte aus der Ferne die „Christbäume“ sehen, die sie zur Markierung der Ziele setzten; und wohl auch den Feuersturm, den die Bomben auslösten.

 

Aus Düren bei Aachen wurden 1943 Familien in Naundorf untergebracht. Es musste „zusammengerückt“ werden, verschiedene Familien hatten – auf Anordnung – Zimmer zu räumen. Noch war der Krieg fern der Heimat, aber jede Familie hatte Männer im Krieg, für die man hoffte, dass sie auch da und dort Hilfe und gute Aufnahme fänden. Noch konnte sich keiner vorstellen, selbst auch einmal hier an Leib und Leben bedroht zu sein.

Die Familien waren meist unvollständig: waren doch Väter und Söhne im Krieg, die Mütter trugen oft die ganze Last allein. An einen Vater erinnert man sich in Naundorf, der die Seinen dort unterbrachte und wieder nach Hause musste: am nächsten Tag kam er beim Bombenangriff in Düren ums Leben. Das heißt: Sein Schicksal war ungewiss geblieben: erst Jahre nach Kriegsende, als das zerbombte Haus abgetragen wurde, fand man ihn im Keller.

 

Mancher kam auch nach Seyda, der bereits sein Heim im Feuersturm verloren hatte: So als junges Mädchen Frau Ursel Freidank aus Berlin. Sie war gerade konfirmiert worden, 1943, und nun war alles in einer Nacht verloren: die Habseligkeiten passten in ein paar Koffer. Aus der Großstadt aufs Land: „Hier bleibe ich niemals!“ so waren ihre Gedanken, als sie die ersten Häuser sah – oft hat sie es erzählt – und doch hat sie die meiste Zeit ihres Lebens in Seyda verbracht und ist durch ihre treuen Geburtstagsbesuche für ältere Mitmenschen gar nicht aus unserem Städtchen wegzudenken.

 

Das Flüchtlingselend des Zweiten Weltkrieges begann viel früher, als es hier in unserer Gegend sichtbar und fühlbar wurde: Am 1. September 1939 wurde Polen überfallen, der Hitler-Stalin-Pakt teilte dieses Land auf, Millionen wurden umgebracht, vertrieben, als Arbeitssklaven verschleppt. Auch in unseren Orten waren ja Polen und Serben, Franzosen und Russen als „Fremdarbeiter“ beschäftigt, wenn auch Pastor Mauer 1960 in der Chronik der Turmkugel von Gadegast darüber schreibt, sie seien meist menschlich behandelt worden und hätten mit der jeweiligen Familie an einem Tisch – was verboten war – essen können. Untergebracht waren sie jedenfalls oft schlechter – wie in Gadegast beim Pfarrhaus auf dem Dachboden des Stalles, auf Stroh.

 

Einige Frauen aus Österreich und der Slowakei, auch aus dem „Hultschiner Ländchen“, was 1919 von Deutschland abgetreten werden musste, kamen in Kriegszeiten nach Mitteldeutschland, um hier zu arbeiten. Ihnen wurde Arbeit in einer „Schokoladenfabrik“ versprochen – in Wahrheit waren es Rüstungsbetriebe, die sie beschäftigten. Aus Seyda fuhren dazu täglich Busse nach Treuenbrietzen, sie waren in einer Halle bei der Gärtnerei Freyer in der Jüterboger Straße untergebracht.

 

Die ersten Flüchtlingstrecks erreichten Seyda im Januar 1945. Die Stadt war „verdunkelt“ – es durfte in der Nacht kein Licht zu sehen sein, um den feindlichen Fliegern keine Orientierung zu geben. In der Gaststätte Pätz am Markt wurden sie untergebracht, mit Stroh auf dem Fußboden. Die Einwohner waren über das Elend sehr erschrocken, viele halfen, wie sie konnten; eine Bäckersfrau legte eine Sonderschicht ein und kochte Mehlsuppe für alle. Diese „Schwarzmeerdeutschen“ hatten einen weiten Weg hinter sich, und oft sind sie auch weitergezogen, wie viele, die hier Station machten. Der „Ortsbauernführer“ Hennig vom Markt ging von Haus zu Haus und sammelte Hafer für ihre Pferde; der alte Stellmacher Lootz aus Gentha musste helfen, kaputte Räder an den Gefährten notdürftig zu reparieren, denn am Morgen schon sollte es weiter gehen. Keiner wollte ja „den Russen“ in die Hände fallen, sondern sich wenigstens zu den Amerikanern in den Westen Deutschlands retten. Damals wusste noch keiner, dass sich beide einmal an der Elbe treffen würden, nur wenige Kilometer von hier.

 

Die „Schwarzmeerdeutschen“ waren Russlanddeutsche, oft seit Jahrhunderten in deutschen Dörfern im großen Russischen Reich oder in der Österreich-Ungarischen Monarchie zu Hause. Katharina die Große, Zarin von Russland, vorher Prinzessin aus Zerbst in Anhalt, hatte eingeladen, in ihr Reich zu kommen: mit Versprechen für Steuerfreiheit und großen Landbesitz. Das hat viele in Bewegung gesetzt: In Zeiten, wo eine Familie viele Kinder hatte und nur einer den Hof erben konnte, war das eine glänzende Aussicht. Die Russlanddeutschen haben meist in geschlossenen deutschen Gebieten gelebt: Alles war deutsch: die Sprache, die Straßennamen, die Formulare; die Schule und die Kirche. Das Elend dieser Menschen begann massiv in der Stalinzeit; es setzte sich fort, als sie in den Machtbereich Hitlers kamen: Er schickte sie „heim ins Reich“. Manchmal über Umwege – Sammellager in Bayern – wurden sie in Polen „angesiedelt“, zum Beispiel im „Warthegau“ und bei Lodz. Dort sollten sie anstelle der (vertriebenen, ermordeten, als Arbeitssklaven erniedrigten) Polen die Bauernwirtschaften betreiben. Doch schon nach wenigen Monaten, mit Heranrücken der Ostfront, waren sie wieder auf der Straße: auf der Flucht vor der Roten Armee.

In unsere Orte kamen Menschen aus Wolhynien (Ukraine), aus Bessarabien, Siebenbürgen, der Bukowina und vom Schwarzen Meer (heute Rumänien, Moldawien, Russland).

Als dann die Rote Armee auch hier in Seyda einzog, wurden  etliche von ihnen gezwungen, wieder nach Russland zu gehen: so eine Lehrerin, die schon in der Seydaer Schule angefangen hatte zu arbeiten. Diese Menschen kamen in Arbeitslager in Sibirien, wo sie über 10 Jahre nicht ohne Sondergenehmigung ihre Orte verlassen durften; später dann nach Kasachstan und Kirgisien an der chinesischen Grenze. Beim Zerfall der Sowjetunion Anfang der 90iger Jahre wurden sie auch dort wieder als „Ausländer“ angesehen und sind dann in großer Zahl nach Deutschland gekommen, auch nach Seyda. In der Sowjetunion waren sie als „Deutsche“ und „Faschisten“ beschimpft worden. Es wurde bei Strafe verboten, die deutsche Sprache zu sprechen. Das ist der Grund, warum die jüngere Generation erst wieder Deutsch lernen musste. Die älteren sprechen oft auch einen schwäbischen Dialekt, der erinnert, dass ihre Vorfahren einmal von dort ausgewandert sind.

Oft blieben die Familien der Russlanddeutschen, die nach 1990 hierher kamen, in Seyda nur einige Jahre – es gab eine Frist, in der sie in dem ihnen zugeteilten Bundesland Sachsen-Anhalt bleiben mussten – sie zogen dann wegen der Arbeit gen Westen. Es sind in den meisten Fällen Familien mit vielen Kindern gewesen, und der Familienzusammenhalt ist sehr stark. Die kirchlichen Traditionen wurden oft über Jahrzehnte im Untergrund, ohne Pfarrer und offizielle Kirche, mit handgeschriebenen Gesangbüchern, weitergegeben. Nicht selten haben die Großmütter die Kinder getauft, weil die Pfarrer ermordet worden waren und es einfach keine in der Nähe gab.

 

In den Orten Gentha und später in Mark Friedersdorf und Mark Zwuschen haben 1945 viele dieser Flüchtlinge aus weiter Ferne eine neue Heimat gefunden: In Gentha wurde das alte Rittergut aufgelöst und das Land verteilt, es gab eine neue Siedlung; in Mark Zwuschen und Mark Friedersdorf war es ähnlich, ganz neue Dörfer entstanden.

„Nach Beendigung des grausamen Krieges im Jahre 1945 bestand Mark-Zwuschen also aus dem Herrenhaus, dem Speicher, dem Jagdhaus und 2 Landarbeiterkaten, in denen zusammengepfercht 9 Familien hausten.

Eine ehemalige Landarbeiterin des Gutes Norte berichtet:
„Wir waren aus allen Himmelsrichtungen nach Mark Zwuschen gekommen, Schwarzmeerdeutsche und Deutsche aus Rumänien, Leute aus dem ehemaligen Warthegau und aus den Sudeten. Unsere Sprache war verschieden und wir hatten verschiedene Sitten und Gebräuche. Aber nie ließ einer den anderen im Stich. Jeder half dem anderen, wo er nur konnte.“

Diese fleißigen Menschen erhielten mit der demokratischen Bodenreform Land und begannen mit viel Elan, den Ort Mark Zwuschen aufzubauen.“ (Inge Malek in Heimatkurier 4/97, 5).

 

Auch hier ist die Frömmigkeit bemerkenswert: Es wird etwa erzählt, dass die Morxdorfer Kirche von mehr „Zwuschenern“, also Zugereisten, als von Einheimischen besucht wurde. Als nach der Bodenreform jede Familie Land erhielt, gaben die Christen in Mark Zwuschen von dem wenigen ein Stück Land ab: Dort sollte eine eigene Kirche gebaut werden. Eine eigene Kirchengemeinde „Neuheim“ sollte entstehen. Die umliegenden Gemeindekirchenräte unterstützten das; in Sitzungen vom 1. und 3. Mai 1949 wurde in Morxdorf, Mellnitz und in Seyda beschlossen, Kirchenland als Existenzgrundlage für die neue Kirchengemeinde abzutreten. Dann aber trat die Staatsmacht auf den Plan und verhinderte massiv Kirchenbau und Gemeindeneugründung. Max Priedigkeit, Maurer aus Ostpreußen, wurde noch in den fünfziger Jahren beim Bau eines Pumpenhäuschens von fremden Männern in Schwarz aufgefordert: „Du baust hier eine Kirche? Lass das sofort sein!“

Der erste LPG-Vorsitzende von Mark Zwuschen, Hermann Schulz, war auch Kirchenältester; durch den massiven Druck aber verließen viele Neubauern den Ort wieder und suchten woanders (manchmal in weiter Ferne, zum Beispiel in Kanada), ihr Glück.

 

Die ersten Flüchtlinge wurden noch in relativ geordneten Verhältnissen aufgenommen. Es gab die Regelung, dass am Abend jede Gemeinde verpflichtet war, Unterkunft zu gewähren. Immer mehr kamen: meist in Familienverbänden – jedoch ohne (junge) Männer, manchmal in Nachbarschafts- und Dorfverbänden. Die Not schweißte zusammen.

In Seyda wurde das alte Reichsarbeitsdienstlager zum Flüchtlingslager. An einem Tag wurden bis zu 100 Neuankömmlinge registriert: die Namen mit Bleistift, das Alter, der Herkunftsort. Meistens Mütter allein mit 3, 4, 5 und mehr Kindern, ganz alte Menschen, hoch in den 80igern: sie waren zu Fuß unterwegs und wussten meist nicht, wohin.

Furchtbares hatten sie erlebt: oft waren sie „zwischen die Fronten“ geraten, hatten Kinder, Eltern, Nachbarn, Freunde verloren; hatten schlimme Gewalttaten erlitten.

 

Wohin? Die Straßen waren voller Flüchtlinge, die Häuser überfüllt. Wer sollte helfen? Eine Ordnungsmacht war nicht mehr da. Die Welt war aus den Fugen.

Mancher hatte das Ziel, entfernte Verwandte zu erreichen; mancher war – wie in Naundorf und Gentha  – in unserer Gegend „in Stellung“ gewesen und hatte deshalb Bekanntschaften. Bisweilen wohnten Großfamilien in einem

 

einzigen Zimmer miteinander. Es gab Hunger und Not. Die Kinder wurden zum Betteln geschickt, sie bekamen am ehesten etwas und mussten die Erwachsenen mit ernähren. Alle, die konnten, mussten schwer arbeiten – auch die Städter, die die Landarbeit nicht gewohnt waren.

 

Nach Seyda kam in diesen Tagen auch Pastor Lent, selbst mit seiner Familie auf der Flucht. Frau Lent war schwanger. Sie wurden zunächst im Pfarrhaus aufgenommen, und Pastor Lent versah seinen Dienst in Vertretung für Pastor Hagendorf, der im Konzentrationslager war. Viele Beerdigungen: Selbstmorde, tote Soldaten auch und erschossene Zivilisten! Als er früh am 22. April vom Milchholen heimkam, sagte er seiner Frau: „Die Russen sind da.“ Sie versteckte sich auf einem Heuboden in der Pfarrscheune. Auf dem Kirchplatz hatten viele ihre alten Uniformteile abgelegt – fast alle waren ja in einer nationalsozialistischen Organisation, Hitlerjugend oder Bund Deutscher Mädchen, Reichsarbeitsdienst oder Wehrmacht.

Die russischen Soldaten verübten auch in Seyda furchtbare Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Von Pastor Lent wird erzählt, dass er sich zu den großen Essgelagen der Russen hinschlich – wenn sie etwa Kühe und Schweine geschlachtet und verspeist hatten  - und dort die Reste sammelte, um sie bedürftigen Familien zu bringen. In diesen Wochen kam er auch einmal nach Zemnick zum Gottesdienst; die Bauern waren aufgebracht, weil die Russen gerade alle ihre Rinder mitgenommen hatten. Der Pastor schloss die Kirche wieder zu, ging – in diesen Zeiten, unter Lebensgefahr – zum russischen Kommandanten, legte ihm dar, dass damit den Zemnickern die Existenzgrundlage genommen sei und die Kühe zurück müssten. Sie kamen zurück! Zunächst wurden ihm ein paar alte, kranke angeboten – die er jedoch zurückwies; und dann kamen sie am Abend wieder nach Zemnick; die Leute konnten ihren Augen kaum trauen und haben es noch Jahrzehnte später erzählt. Dieser „Flüchtlingspastor“ hat also hier in diesen schweren Zeiten Dienst getan, bis Pastor Hagendorf wiederkam. In der Neuen Straße, bei Deutsch, hat seine Frau im Juni ihr Kind geboren.

 

Ob es eine vergleichbare Begebenheit in Russland mit einem deutschen Kommandanten gibt? Überliefert ist von mehreren Soldaten, die auf „Fronturlaub“ zu Hause waren, dass sie (hinter vorgehaltener Hand) sagten: Was da im Osten für schreckliche Dinge mit der russischen Zivilbevölkerung geschehen – wenn die einmal zu uns kommen, dann gnade uns Gott!

 

Alles hatten die „Flüchtlinge“ verloren – das Wort klang wie ein verfluchtes, ein Schimpfwort! Die allermeisten hatten doch zu Hause ein geregeltes Leben gehabt, mit Haus und Hof, und nun waren sie Bettler mit leeren Händen. Die letzten kleinen Reichtümer waren schnell eingetauscht in Brot oder andere Nahrungsmittel. Es kam darauf an, was man konnte.

Ein „Flüchtlingsmaler“, Herr Bergemann, hat Seyda gemalt; sehr schöne Bilder sind damals entstanden, die das alte Seyda zeigen; so vom Amtshaus und ein Blick in den Haak oder aus der Triftstraße; in einem Kalender 2002 wurden einige davon reproduziert, sie hängen heute noch in Seydaer Wohnzimmern.

 

Viele fanden in der Kirche eine Heimat: dort hörte und sang man die vertrauten Melodien und Texte, dort gab es Trost und Hoffnung. In Seyda entstand in diesen Monaten eine katholische Gemeinde! Bis dahin gab es fast keine Katholiken in unserer Gegend; ja, „katholsch“ heißt im flämischen Dialekt sogar „verkehrt“, „nicht von uns“ – nun aber wurden die Kirchen geöffnet auch für die jeweils andere Konfession – in

 

anderen Gebieten Deutschlands die katholischen Kirchen für die evangelischen Christen. Hier, im Osten, wurde nicht nach dem Glauben der Ankömmlinge gefragt (registriert wurde er freilich); im Westen soll es der Gedanke Adenauers gewesen sein, Katholiken in evangelische Gebiete und Evangelische in katholische Gebiete zu schicken, um die konfessionelle Spaltung des Landes aufzubrechen.

 

So fand in der Seydaer Kirche wie auch dann in den 50iger Jahren im neuen Gemeinderaum im Pfarrhaus katholischer Gottesdienst statt. Der Priester kam aus einem anderen Ort, lange Zeit aus Elster, ein kleiner Tisch wurde als Altar aufgebaut und geweiht, ein Marienbild daran befestigt. Es gab kleine – heute noch vorhandene – Hocker für die Messdiener, Jungen aus Seyda. In den 50iger Jahren kam auch der katholische Bischof zur Firmung (vergleichbar der Konfirmation) der katholischen Jugendlichen aus Seyda und Umgebung. Die katholische Gemeinde hatte in der Sakristei einen eigenen Schrank, darin lagen die Messformulare (noch in lateinischer Sprache), die Handzettel für die Caritas-Sammlung (für Bedürftige), auch noch (1993) das Rauchwerk  des Priesters. Einen eigenen Kirchenschlüssel bekamen die Katholiken, 1994 wurde er zurückgegeben: Der einzige, der uns noch von den originalen Schlüsseln erhalten ist, mit einem feinen Stern im Bart. Alle anderen sind über die – auch für die evangelische Gemeinde nicht einfachen - Jahre verloren gegangen!

 

Um 1970 kam ein junger katholischer Pfarrer nach Elster, und die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen intensivierte sich, wohl auch in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Nun sprachen alle im Gottesdienst deutsch, und es wurden Ökumenische Gottesdienste miteinander gefeiert. Die Zahl aber der katholischen Christen nahm immer mehr ab: Viele waren weiter, in den Westen, gezogen; viele der jungen Generation „heirateten“ in alte, evangelische Familien ein – und wurden evangelisch, mancher auch beendete seine Kirchenmitgliedschaft.

Erst nach der Wende 1990 wurde es der katholischen Gemeinde, die nun ihren Sitz in Elster hatte, erlaubt, eine Kirche zu bauen. Schwester Dietgarda, auch als Flüchtling gekommen, baute sie mit eigener Hand, aus einer Garage in der Molkereistraße in Elster, sie bietet ca. 40 Menschen Platz.

 

Noch heute kann man die Spuren des Wirkens von Frau Anna-Maria Hor aus Mellnitz sehen. Sie stammte aus Schlesien, war und blieb ihr Leben lang katholisch. Als sie Anfang der 90iger Jahre nach Mellnitz kam, besuchte sie, so oft es ging, katholische Gottesdienste in Zahna – aber immer auch

den evangelischen Gottesdienst in Mellnitz. Viele Jahre sorgte sie für den Schmuck der Kirche mit Blumen. Sie stiftete einen bunten Wandteppich, auf dem das Abendmahl Christi mit seinen Jüngern dargestellt ist, und der heute mitten in der Kirche am Altar hängt. Regelmäßig besuchte sie auch den Gemeindenachmittag in Seyda, von ihren Spenden für das Fahrgeld wurden die Leitern in den Mellnitzer Kirchturm besorgt.

 

Beim Gemeindenachmittag in Seyda waren über die Jahre wie selbstverständlich katholische Christen dabei: Sie gehörten dazu und brachten ihre Lebensgeschichte und ihre Tradition ein. Regelmäßig kommt auch heute Besuch von der katholischen Schwester bzw. der Gemeinde dort aus Elster, zum Beispiel die Sternsinger, die über die Tür den Haussegen 20 + C + M + B + 06 schreiben.

Eine der katholischen Frauen beim Gemeindenachmittag war die bisher älteste Frau in Seyda: Maria Brill. Sie wurde 101 Jahr alt. Im Januar 1946 ist sie mit ihren Geschwistern aus Zoppot bei Danzig an der Ostsee in das Lager in Seyda gekommen.

 

Beim Gemeindenachmittag ist es üblich, dass sich, wer Geburtstag hatte, ein Lied wünschen darf. Ich fragte Frau Anna Trollmann, welches Lied wir ihr denn singen könnten zum 88. Sie nahm das Liederheft und schlug eins vor, was ich aber nicht kannte und – Noten standen nicht dabei – deshalb auch nicht singen konnte. „Geben Sie doch einmal ihre Gitarre, ich mache das!“ – so forderte sie mich auf – und spielte und sang zu unser aller Erstaunen das Lied vor. „Ja, in Ostpreußen, da hatten wir doch einen Jugendchor!“ Das Lied:

 

Ich bin durch die Welt gegangen,

und die Welt ist schön und groß.

Und doch ziehet mein Verlangen

mich weit von der Erde los.

 

Ich habe die Menschen gesehen,

und sie suchen spät und früh.

Sie schaffen und kommen und gehen,

und ihr Leben ist Arbeit und Müh.

 

Sie suchen, was sie nicht finden

in Liebe und Ehre und Glück,

und sie kommen belastet mit Sünden

und unbefriedigt zurück.

 

Es ist eine Ruh vorhanden

für das arme, müde Herz!

Sagt es laut in allen Landen:

Hier ist gestillet der Schmerz.

 

Es ist eine Ruh gefunden

für alle fern und nah:

In des Gotteslammes Wunden

am Kreuze auf Golgatha.

 

(Worte: Eleonore Fürstin Reuß; In: Zu guter Stunde. Geistliche Volkslieder. Hrsg. Von Erika Schreiber und Theophil Rothenberg, Berlin 1982, 105.).

 

Aufgrund der schrecklichen Erlebnisse haben viele ihren Glauben verloren. Sie fragten sich: Wo hat Gott mir geholfen? Wo war er? Warum hat mich dieses Leid getroffen?

Etliche aber gab es auch, die sagten und sagen: Durch den Glauben hatte ich Halt, durch all das hindurchzukommen.

Im Seydaer Kirchenbuch ist die Spalte „Bemerkungen“ bei den Beerdigungen selten ausgefüllt; es fällt deshalb auf, dass insbesondere bei denen, die durch den Krieg nach Seyda kamen und ihre Heimat verloren hatten, öfter etwas da steht:

„Kam auch bei schlechtem Wetter regelmäßig von Lüttchenseyda zum Gottesdienst.“ - „...kam regelmäßig zu den Bibelstunden“ – „Sie war sehr kirchlich.“ (zweimal) – „War sehr kirchlich, ...“ – „Der Herr ist mein Hirte, mir soll nichts mangeln. Ps 23,1 (selbst von ihr ausgewählt) ... hielt sich treu zur Kirche.“

Im Schicksal des auch aus der Heimat vertriebenen Gottesvolkes und im Leiden und Sterben des Herrn Jesus fanden sie ihr Leid wieder: Den Gott, der mitgeht und hinaus- und hindurchführt.

 

Heute ist es keine Seltenheit, dass man seinen Heimatort verlässt – wegen der Ausbildung oder der Arbeit in der Ferne. Vor 60 Jahren jedoch war das nicht die Normalität. Man lebte in seinem Ort, von der Geburt bis zum Tod; und nicht selten war man nicht weit über den Kreis Schweinitz oder bis nach Wittenberg hinausgekommen, es sei denn durch Kriegsdienst.

Im Zemnicker Kirchenbuch ist 1899 ganz besonders ein Zugereister vermerkt worden: Ein Eisenbahner aus Ostpreußen heiratete ein Zemnicker Mädchen: Das gab es bis dahin nicht oder sehr selten. So hat sich durch den enormen Zustrom von Menschen zum Kriegsende auf unseren Orten viel verändert: auch an Weltsicht, Erfahrungen, bis hin zu Kochrezepten. Die Neuankömmlinge haben sich mit ihrem Erfahrungsschatz, ihrer Arbeitskraft, ihrem Leben eingebracht in die Gemeinschaft. Viele Namen sind aus der Geschichte unserer Stadt gar nicht wegzudenken, so die Bürgermeister Karl-Heinz Benesch und Emil Motl, der langjährige Heimatvereinsvorsitzende Dr. Alexander Bauer – Menschen, die viel für Seyda getan haben und auch einmal aus den Sudeten hierher kamen. Wie gesagt, fast keine Familie gibt es, in der es nicht auch ein Flüchtlingsschicksal gibt: Durch den Lauf der Zeit, durch Heirat auch haben sich Alteingesessene und Dazugekommene miteinander verbunden.

 

Der Improvisationskunst von Herrn Biber, der in Glückstal  im Odessagebiet geboren wurde, verdanken wir es zum Beispiel, dass die Löcher in der Kirchendecke geschlossen werden konnten. Im heißen August 1994 hat er das getan – eine mühevolle Arbeit, für die sich sonst keiner fand.

 

Ein besonderer Ort in Seyda bei der Aufnahme von Flüchtlingen war der Diest-Hof. Dort kamen besonders alleinstehende und hilfsbedürftige Menschen unter, und der Charakter der Einrichtung wandelte sich zu einem Kirchlichen Alters- und Pflegeheim, später zu einem Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung. Viele der älteren Bewohner dort sind aus dem Osten, und manche haben ihre Behinderung auch durch unmittelbare Kriegseinwirkungen.

Ein Zeitzeuge: „Nach der Einnahme Seydas durch die sowjetische Besatzungsmacht wurde im ersten Gebäude der Arbeiterkolonie ein zentrales Krankenrevier eingerichtet. In den oberen Räumen wohnten die pflegebedürftigen Heimbewohner. Im zweiten Gebäude befand sich die Küche, darüber wohnte das Küchenpersonal.“ (Heinrich Hanns, Erinnerungen; In: Bärbel Schiepel, Heimatgeschichte(n), Seyda 2001).

 

Die Aufnahme und Integration so vieler Menschen war eine schwere Aufgabe. In den Häusern wurde jeder Raum genutzt, man lebte sehr beengt. Zeitweise musste jeder Hausbesitzer Wohnraum geräumt haben und bereit halten, falls Unterkunft (meist noch über Nacht, später für längere Zeit) gebraucht wurde. In der Schule waren die Klassen überfüllt, die Liste der Bedürftigen war lang. Die Bevölkerungszahl Seydas war von 1.600 (1945) auf 1.704 (1946; am 29.10.: 737 männlich; Gemeindebuch Sachsen-Anhalt 1948) und 2.075 (1947) gestiegen, durch die Aufnahme von Umsiedlern, die noch bis 1948 kamen. (Heimatbuch 52).

74 Flüchtlingskinder besuchten die Seydaer Schule.

Der Rat der Stadt Seyda richtete einen Umsiedlerausschuss ein. Es ging um den Wohnraum, um die tägliche Versorgung. So wurden am 6. August 1946 40 Kochtöpfe verteilt (59 Anträge waren gestellt). Holzklötze für Pantoffeln und Schuhe wurden 1947 bis 1949 zugeteilt. Dazu mussten in allen Schulen der Umgebung Bedarfslisten aufgestellt werden. Für Seyda sah sie so aus: Größe 20 cm – 35 Stück; Größe 21 cm – 39 Stück, Größe 22 cm 46 Stück, Größe 23 cm – 32 Stück, Größe 24 cm – 36 Stück, Größe 25 cm – 46 Stück, Größe 26 cm – 54 Stück, Größe 27 cm 36 Stück, Größe 28 cm – 24 Stück, Größe 29 cm- 12 Stück, Größe 30 cm 5 Stück. Hinter diesen Zahlen stehen viele kleine Kinderfüße, die dringend Schuhwerk brauchten!

 

In den Wintern 1945/46 und 1946/47 wurde in Seyda eine Winterküche eingerichtet. Immer noch kamen Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten. Wer nicht rechtzeitig weggekommen war, musste dort unter schwersten Bedingungen leben und arbeiten – viele sind umgekommen. Die letzten kamen in größeren Gruppen 1948, bei einem Mann im Kirchenbuch heißt es unter „Bemerkungen“: „kam erst in den 50er Jahren aus Polen“.

Aus den Sudeten, also den Gebieten der Tschechei, in denen viele Deutsche lebten, kamen zunächst im Sommer 1945 versprengte Gruppen, Opfer der „wilden Vertreibung“. Die Tschechen rächten sich grausam für das ihnen zugefügte Leid, viele wurden umgebracht. Ein Datum ist zum Beispiel das „Blutbad von Aussig“ am 31. Juli 1945. In den Kirchenbüchern von Aussig (heute Usti) bis Dresden wurden über 80 Eintragungen über Tote gefunden, die an diesem Tag dort in die Elbe geworfen worden sind.

Im August 1945 tagten in Potsdam die Siegermächte, dort wurde endgültig beschlossen, dass die deutsche Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten und den Sudeten ihre Heimat verlassen sollte. 1946 wurden so in den Sudeten Eisenbahnzüge zusammengestellt. Sie gingen fast alle in den Westen Deutschlands, nur wenige fuhren in den Osten, einer  nach Falkenberg, ein Teil der Waggons davon nach Elster. Es waren Viehwaggons, in denen die Menschen zusammengepresst mit ihren wenigen Habseligkeiten ausharrten. Die meisten von ihnen kamen nach Seyda.

Darüber gibt es einen Erlebnisbericht, aufgeschrieben von Helmut Klaubert aus Asch am 28. Juni 1956: „Nachdem bereits 1000 Ausgewiesene Asch in Richtung Osten verlassen hatten, verstärkte sich das Gerücht immer mehr, dass mit weiteren Transporten in die sowjetische Zone zu rechnen sei... Über die nahe Grenze und durch den Rundfunk wurden ja damals Dinge über die Sowjet-Zone bekannt, die jeden von den dort herrschenden Zuständen abschreckten. Da waren die nie stillstehenden Demontagen der Betriebe, die Vergewaltigungen und die große Hungersnot. Am Vormittag des 23.7.1946 erhielten wir auf eigene Initiative unsere Ausweisungsbefehle für acht Familienmitglieder. Am selben Tage noch übergaben wir unser Geschäft an einen tschechischen Nationalverwalter, der sehr gnädig mit uns verfuhr. In der kommenden Nacht wurde in drei Haushalten eifrig gepackt. Mutter und Schwester nähten große Säcke, mein Bruder schrieb die vielen Schilder, die dann daran befestigt wurden. Zu dieser Zeit hatte es sich bereits herumgesprochen, wie es am besten sei, mit den wenigen Habseligkeiten vor den Gewalthabern zu erscheinen.

Schuhe, Anzüge und alle Paardinge wurden sorgfältig getrennt in verschiedenen Säcken untergebracht. Und was noch an neuer Wäsche zu Hause war, denn das meiste befand sich ja, auf Pascherwegen nach Bayern gebracht, bereits an sicherem Ort, wurde zerknittert, verdreht und unansehnlich gemacht. Dann stopften wir die Säcke voll mit allem Hausrat, nur um ein rechtes Kunterbunt zu erreichen. Dies und jenes sollte mitgenommen werden, und manchmal stand man vor Rätseln, was nun wirklich notwendig sei. Zum Ende zeigte sich alles unentbehrlich, und als wir unser Bündel und Packen mit einer Waage kontrollierten, ergaben sie ein Gewicht, das weit über den gestatteten 400 kg (pro Kopf = 50 kg) lag...

Am 24. Juli 1946, vormittags 11 Uhr, nahmen wir Abschied von den noch verbliebenen Bekannten und von der Wohnung. Auf einem großen Pferdewagen lag unser Hab und Gut aufgeladen. Nicht allein waren wir..., unterwegs reihte sich so mancher rollende Unglückshaufen ein. Drei Stunden harrten wir mit unserem Gepäck vor den Untersuchungsbuden. Als wir an die Reihe kamen, füllte man gerade einen neuen Transport auf. Die kontrollierenden Tschechen waren zu dieser Zeit bereits stark betrunken, und wir wussten nicht, wie wir uns auf sie einstellen sollten. Nach eine weiteren Stunde lag auch dies hinter uns.... Bis zum 30.7.1946 kamen noch täglich mehr Menschen mit ihren Habseligkeiten, so dass am 1.8.1946 vormittags ca. 1.200 Vertriebene aus Asch, Wernersreuth, Nassengrub, Thonbrunn, Hastau u.a. mit ihrem Gepäck in die am Aschener Hauptbahnhof bereitstehenden Güterwagen verladen wurden. Bei der Verladung selbst gab es erneute Fragen, denn was sich als Gerüchte die vergangenen Tage halten konnte, bestätigte sich an den vorgefundenen Waggons, die alle Hammer und Sichel sowie die Aufschrift „UdSSR“ (=Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, = Sowjetrussland)  trugen.  Nach Befragen der offiziellen tschechischen Stelle verwarf man unsere Feststellung und sagte: Dies wäre der letzte Transport nach Westdeutschland! Um 13 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung, und es gab Tränen über Tränen. Nach kurzer Zeit erreichten wir Franzensbad, wo sich der Zug etwa 20 Minuten aufhielt. Die Lokomotive wechselte an das Ende. An den Waggontüren, die verschlossen wurden, zeigten sich tschechische Soldaten mit Maschinenpistolen. Erneutes Rätselraten über das Wohin. Man sprach von Umleitung über Tirschnitz. Aber als wir Voitersreuth durchfuhren, war es jedem klar, dass man uns belogen hatte. Wer kann sich wohl heute noch die große Enttäuschung vorstellen? Bad Brambach war die erste Station auf deutschem Boden... Ich selbst lag bereits von Asch aus mit hohem Fieber im Waggon und sch lief am Vormittag ein. Als ich aufwachte, war es ca. 2 Uhr in der Nacht, draußen regnete es. Trotz der Dunkelheit und der nassen Witterung musste schleunigst der volle Zug geräumt werden... Die Beladung des neuen Zuges war mit zwei Stunden befristet. Beschämend zeigte sich das Benehmen einiger Landsleute, die glaubten, besondere Privilegien zu besitzen, denn mit einem nicht zu bekehrenden Egoismus nahmen sie ganze Waggons für sich selbst in Anspruch, so dass kurz vor Abgang des Zuges viele Vertriebene mit ihrem Gepäck nicht untergebracht waren. Es gab viel Geschrei und sogar Handgreiflichkeiten... Um 8 Uhr des 3. August erreichten wir den Bahnhof Herzberg/Elster – West. Das dortige Lager dürfte wahrscheinlich überfüllt gewesen sein, denn nach kurzem Warten ging es die ca. 20 km zurück nach Falkenberg. Ca. drei Stunden stand der Transport auf dem dortigen Verschiebebahnhof, um danach in Richtung Lutherstadt Wittenberg den Kurs zu nehmen...

Um 14 Uhr desselben Tages hielt der Zug am Bahnhof Elster/Elbe, ein verlassenes Nestchen inmitten der märkischen Streusandbüchse. Ebene so weit das Auge zu schauen vermag, spärlicher Kiefernwald und nichts als Sand. Ein unüberwindlicher Übergang für die Bergmenschen aus der Aschener Heimat. Bei unserer Einfahrt versammelten sich auf dem Bahnhofsgelände eine Menge Bauerngespanne. Sie nahmen in mehreren Fahrten Gepäck und Menschen auf und schafften diese in das 16 km entfernte Dörfchen Seyda bei Zahna im Kreise Schweinitz, wo Quarantänelager bezogen wurde. Die Unterbringung erfolgte in acht ausgedienten Arbeitsdienstbaracken sowie im Saal des nahen Schützenhauses.

Meines Wissens hing man bereits in Falkenberg in der Früh ein Drittel des Transportes ab, und die Unterbringung dieses Teiles nahm man im Quarantänelager Herzberg/Schwarze Elster vor.

Der zweite Tag im Lager Seyda brachte schon die erste Sensation. Ein Stab von sowjetischen Offizieren aus dem Hauptquartier in Jüterbog besuchte das Lager, und es gab heftige Diskussionen. Immer wieder brachte man von unserer Seite den Einwand, wonach dieser Transport überhaupt nicht hierher gehörte, sondern dass er nach unserem ausdrücklichen Wunsch sofort nach Westdeutschland weitergeleitet werden solle. Ich glaube, man gab uns Zugeständnisse, zumindest versprach die sowjetische Delegation Hilfe.

In den vorhandenen Lager-Duschräumen unternahm man Großreinemachen. Verschiedene Frauen halfen in der Lagerküche. Alle Lagerinsassen unterzogen sich einer strenggehaltenen Typhusimpfung. Alle kranken Personen bettete man in eine eigens vorgesehene Isolierbaracke. Des öfteren hielt ein Ascher Landsmann unter sehr großer Anteilnahme Gottesdienst im Freien. Die Erwachsenen fanden die ersten schwierigen Kontakte mit der Bevölkerung, und der materielle Nachschub stand dabei immer im Vordergrund. Das Essen im Lager selbst war für die damalige Zeit nicht schlecht und ausreichend.

Als sich keine Anzeichen für eine Übergabe des Transportes nach Westdeutschland zeigten, im Gegenteil, sich die Behauptung immer mehr durchsetzte, der Transport verbleibe in der russischen Zone, unternahmen so manche Familien auf eigenes Risiko die Fahrt nach dem Westen. Der Abgang betrug ca. 200 Personen.

(Im Anschluss schildert der Vf. die Aufteilung des Transportes auf die Gemeinden des Kreises Bad Liebenwerda und das weitere Schicksal der Ausgewiesenen.)“

(Aus einer Dokumentation: „Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, hrsg. vom ehemaligen Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Band 2, 473 – 476, Augsburg 1993.).

 

In Seyda und den umliegenden Ortschaften wurden alle Möglichkeiten der Versorgung und des Zuverdienstes  ausgelotet, um die Not zu lindern. 1948 gab es eine Heilkräutersammlung in ganz Sachsen-Anhalt, bei uns war der Initiator Kaufmann Alfred Suckow aus Lüttchenseyda, auch ein „Flüchtling“. Der Rat des Landkreises Schweinitz schrieb: „Zu dieser Sammelaktion müssen alle Alten nicht Arbeitseinsatzfähigen gewonnen werden. Insbesondere soll den Unterstützungsempfängern Gelegenheit gegeben werden, durch Sammeln von Kräutern ihre finanzielle Lage zu verbessern.“ In der Heide wurde Brennholz und Streu für die Tiere gesammelt, neben Beeren, Pilzen und allem, was es an Essbarem dort zu finden gab.

Noch in den fünfziger Jahren gab es große Engpässe in der Versorgung. So wurde zum Beispiel 1954 durch die „Volkssolidarität“ und den „Rat der Stadt“ eine Bürgeraktion für Bedürftige initiiert: über eine Liste konnte man entweder Geld geben oder ein Päckchen packen, für Familien in der Stadt, die wenig oder fast nichts hatten, zu Weihnachten.

 

Das Lager in der Jüterboger Straße, am Schützenhaus, war Hauptwohnort der Umsiedler aus dem Osten. Jeder Quadratzentimeter wurde zum Wohnen genutzt. Sogar Eisenbahnwohnwagen dienten als Unterkunft. In den Stadtakten kann man lesen: „Zwei Wagen sind zu einer Wohnung vereinigt worden, während der dritte als Stallung benutzt wird. Bereits im Zeitpunkt des Zusammenbauens der Wagen befanden sich diese in einem derart verbrauchten Zustande...“

Im Oktober 1947 heißt es: „Der frühere Gendemarie-Wachtmeister Wilhelm Jendrosch bewohnt seit 15. September des Jahres zwei Räume (Stube und Küche) in einer der beiden Wohnbaracken in der Jüterbogerstrasse, die die Stadtgemeinde vom Kreis erworben hat. In den Baracken sind eine Anzahl Flüchtlinge untergebracht. Jendrosch obliegt es, die Ordnung sowohl in den Baracken, wie auf dem Gelände sicherzustellen und sich um die übrigen Liegenschaften (Speicher-Baracke mit Küche, Baracke, in der sich die Waschanstalt und die Entlausungsanstalt befindet, und die beiden noch abzutragenden Baracken) zu kümmern.“

Das Lager wird im Januar 1950 so beschrieben: 1 Wohnbaracke an der Straße, 1 Sanitätsbaracke, 1 Küchenbaracke, 1 Wirtschaftsbaracke (alles Holzbauten); Entlausung (drei massive Wände), Aborte (Holz), Stallung (massive Wände).

Im Januar 1949 heißt es: „Da durch die wohl auf Jahre hinaus noch anhaltende Wohnungsnot auch die o.a. Baracken als Unterkünfte zum dauernden Aufenthalt von Menschen dienen werden, müssen Rauchabzugsrohre der Baracken nach der gültigen Bauordnung für das platte Land der Provinz Sachsen durch Schornsteine aus feuerbeständigem Mauerwerk ersetzt werden.“

 

Zu einem Zwischenfall kam es im Sommer 1947:

„Ferndurchsage 7.6.1947, 12.15 Uhr

An den Bürgermeister in Seyda.

Sobald sich bei Ihnen russische Offiziere einer außer dem Kreise liegenden Einheit vorstellen, um nunmehr gewaltsam die Baracken des jetzigen Quarantänelagers abbrechen zu wollen, weise ich Sie darauf hin, sich diesem Abbruch in jeder Art und Weise zu widersetzen. Der Abbruch darf nur dann erfolgen, wenn ein Vertreter der Herzberger Kreiskommandantur oder eine schriftliche Anweisung an Sie ergangen ist. Der Kreisrat, Vermögensverwaltung i.A. gez. Krüger.“

 

Am 12.6.1947 schreibt der Bürgermeister an den Landrat, persönlich:

„Quarantänelager Seyda

Mitte voriger Woche sprachen bei mir ein russischer Oberst und ein Major wegen des Abbruchs der Baracken vom Quarantänelager vor. Da mir von einem Abbruch der Baracken bis dahin nichts bekannt war, versuchte ich in Erfahrung zu bringen, welche Stelle eine derartige Entscheidung getroffen habe und in wessen Auftrage der russische Oberst und der Major nachhier kamen. Die russischen Offiziere ließen sich aber auf meine Fragen nicht ein, erklärten vielmehr, dass ich unter allen Umständen Arbeitskräfte bereitstellen müsste, um die Baracken zerlegen zu lassen. Der Forderung auf Bereitstellung von Arbeitskräften konnte ich indes nicht nachkommen; ich verwies darauf, dass die dafür in Frage kommenden Arbeitskräfte im Wald, im Sägewerk und in Jessen in Beschäftigung stünden. Daraufhin nötigte mich der Major mit zum Dampfsägewerk Seyda, wo er mit dem Betriebsleiter über den Abbruch und die dadurch entstehenden Kosten verhandelte. Vorher hatte der Major das Lager besichtigt. Der russische Major und der Betriebsleiter des Dampfsägewerks Seyda legten das Nähere über den Abbruch der Baracken und die dadurch entstehenden Kosten schriftlich fest. Das Geld für den Abbruch hinterlegte der Major bei dem Leiter des Sägewerks. Am Abend des gleichen Tages – es war gegen 18 ½ Uhr – sucht mich der Major abermals eilig auf und verlangte die Abstempelung dieser Vereinbarung sowie meine Namensunterschrift. Meine Einwendungen, dass ich mit der Angelegenheit nicht zu tun hätte, erkannte der Major nicht an, sondern bestand unter Druck darauf, das Schriftstück zu unterstempeln... Ich muss Sie, Herr Landrat, dringend bitten, mich in Schutz zu nehmen und die Angelegenheit beim Sozialministerium entsprechend aufzuklären.“

 

„Ferndurchsage 18.6.1947, 7.45 Uhr

An den Rat der Stadt Seyda

Der Abbruch der Baracken des Quarantänelagers Seyda ist nicht mehr zu vermeiden. Es besteht eine Anordnung von Merseburg, dass dem Drängen der russischen Einheit nachgegeben werden muss. Ich bitte Sie, hiervon Kenntnis zu nehmen. Der Kreisrat, Vermögensverwaltung i.A. gez. Krüger“

 

„27.6.1947

Kreisrat an Rat der Stadt

„Der Oberstkommandierende der Provinz Sachsen-Anhalt, General Schlachtschenko, hat einen Befehl den Kreiskommandanten von Schweinitz gegeben, nach welchem jede Veränderung (Demontage oder Abtragen von Baracken) im Lager zu unterbleiben hat. Eventuell begonnene Abtragungen sind sofort zu unterbrechen. Alle eventuellen Zweifel sind demnach nur noch mit dem Oberkommandierenden der Provinz Sachsen-Anhalt zu klären.“

(Aus der Akte 30/498 Stadtarchiv Seyda.)

 

Schon 1949 wurden wieder bewaffnete deutsche Einheiten in Ost und West gebildet. 1956 sollte es zur Gründung der „Nationalen Volksarmee“ kommen. Auch der Seydaer Bürgermeister hatte einen Informationsbericht an den Rat des Landkreises Jessen zu geben: (28. Januar 1956:) „Durchgehende Ablehnung ist bei den Frauen zu hören, ganz besonders bei Kriegswitwen und solchen Frauen, die Söhne im letzten Krieg verloren haben. Im Jahre 1945 schwor das deutsche Volk, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen. Daraus sahen fasst alle, dass wir Deutschen aus der Vergangenheit gelernt haben und Militär und Krieg verdammen. Bedauerlicher Weise hat das deutsche Volk seine Chance nicht genutzt, sich von allem fernzuhalten..., (es) erscheinen die ganzen militärischen Maßnahmen den meisten Menschen zu sehr im Aspekt eines kommenden Krieges. Wir haben im Obenstehenden hier nur die Erforschung der Meinung sehr breiter Kreise der Bevölkerung wiedergegeben, woraus hervor geht, dass eine allgemeine Friedensliebe vorherrscht und eine große Abneigung gegen Soldatentum im breitesten Sinne zu verzeichnen ist. Eine andere Frage ist es jetzt, die Notwendigkeit der Nationalen Streitkräfte der DDR zu popularisieren. Hier werden die übrigen Aufklärungsgruppen der Nationalen Front nicht in der Lage sein, die Menschen zu überzeugen.“

 (4. Februar 1956:) „Die Stimmungen unter der Bevölkerung über die Aufstellung und Bildung von Nationalen Streitkräften in der DDR sind weiterhin zum größten Teil als negativ zu bezeichnen. Einige angesprochene Personen erklärten, uns hat man 1945 gefragt, warum habt ihr ein Gewehr in die Hand genommen und Soldat gespielt? Hättet ihr dieses nicht getan, dann wäre kein Krieg möglich gewesen. Unter den Jugendlichen wird die Meinung vertreten, wer Lust hat, Soldat zu spielen, der kann ja gehen. Es handelt sich bei diesen Angaben wohlgemerkt nur um tatsächlich aufgetretene Tendenzen, die wir wiedergeben. Bedauerlicher Weise hat sich bis heute der Mangel an Glühbirnen noch nicht geändert, so dass die Bevölkerung hierüber Klage führt...“

(Aus der Akte 30/498 Stadtarchiv Seyda.)

 

Zu dieser Zeit gab es die Baracken des „Umsiedlerlagers“ in der Jüterboger Straße noch. Heute ist davon noch eine zu sehen, die vom Schützenverein Seyda genutzt wird.

 

Registriert in Seyda wurden – auf Formblättern, mit Bleistift - am 21. Juli 1945 11 ankommende Erwachsene und 16 Kinder, untergebracht zunächst in der Arbeiterkolonie Seyda, aus den Sudeten (Aussig, Bilin, Bodenbach, Niederkoblitz, Neulitschen, Maria-Ratschütz). Am 23. Juli kamen aus Freystatt Kreis Sprottau, Niederschlesien, 5 Personen, sie zogen, wie die meisten folgenden, in das ehemalige Reichsarbeitsdienstlager in der Jüterboger Straße ein. Am 26. Juli kamen 3 Erwachsene und 2 Kinder aus Trebnitz in Schlesien. Am 6. August eine einzelne Frau aus Jägerndorf in den Sudeten. Am 11. August wurden einhundert Menschen registriert, darunter 38 Kinder, die meisten aus den Sudeten und aus Schlesien. So füllte sich das Lager, manche starben auch dort, viele zogen weiter; und noch mehr waren wohl „privat“ in den Häusern der Stadt untergebracht.

Ein Beispiel von vielen: Mutter Rothbart in der Triftstraße 14 nahm eine Mutter mit 9 Kindern auf. Man stelle sich das vor: Plötzlich muss man Zimmer der eigenen Wohnung räumen, und es ziehen dort bislang fremde Menschen ein, Küche und Waschgelegenheit werden gemeinsam genutzt oder müssen provisorisch geschaffen werden. So geschah es in den meisten Häusern.

Oftmals hatten die Angekommenen eine lange Odyssee hinter sich: schon im Januar „herausgeschmissen“, aus Schlesien über Tschechien bis in unser Gebiet, manchmal noch einmal zurück und wieder vertrieben.

 

Die Liste der Registrierungen im Lager geht bis zum 28.2.1946; vom 29. Dezember 1945 an kamen Umsiedler aus einem Lager in Wittenberg nach Seyda. Aber noch 1948 wurden Menschen aus Ostpreußen (eine Mutter mit 7 Kindern, 2 weitere waren auf der Flucht umgekommen) im Lager aufgenommen.

 

In den Kirchenbüchern des Pfarrarchives und jener Liste zur Registrierung sind die Herkunftsorte vermerkt, daraus ist diese (sicher unvollständige) Aufstellung entstanden.

In Klammern sind die Orte vermerkt, aus denen auch Menschen kamen, die aber nicht in diesen Quellen enthalten sind.

 

Niederschlesien:

Barschdorf

Birkkretscham

Bunzlau

Burau Kreis Sprottau

Breslau

Dambritsch Kreis Neumarkt

Dammern

Deutsch-Wehr

Drachenberg

Dürrkunzendorf

Eckersdorf

Eichdorf bei Hochrode

Falkenhain

Frankenstein

Frauenwaldau

Freiburg

Freiwalde/Oder

Freystadt Kreis Sprottau

Georgental Kreis Goldberg/Schlesien

Giersdorf Kreis Löwenberg

Giersdorf Kreis. Giestkau „(?)“ (bei Hirschberg?)

Glogau

Groß Hammer Kreis Trebnitz

Groß Kotzenau

Großmärtinau Kreis Trebnitz

Großzauche Kreis Trebnitz

Grünberg

Heidewilxen

Heinzendorf

Hermsdorf

Höfel Kreis Löwenberg

Juppendorf Kr. Guhrau

Kaiserswaldau Ortsteil Rudchen

Kipper bei Sagan

Klein Hehnsdorf

Klein Räudchen Kreis Guhrau

Klein-Wilkawe, jetzt Friedensruh

Konradswaldau

Kortopp Kreis Grünberg

Kottwitz

Kunerin Kreis Strehlen

Lättnitz Kreis Grünberg

Lättwitz Kreis Grünberg

Langenau Kreis Löwenberg

Langhermsdorf

Lauban

Laubendorf Kreis Militsch

Lauterbach

Leutsch

Liegnitz

Lindau

Lissen Kreis Neumarkt

Mariendorf Kreis Groß Wartenberg

Maserwitz

Meseritz

Netschütz Kreis Freystadt

Neubatzdorf Kreis Habelschwerdt

Neudorf Kreis Lüben

Niederlesten Kreis Guhrau

Niedersalzbrunn

Ober-Stradam Kreis Groß-Wartenberg

Obersiegersdorf

Parschdorf bei Liegnitz

(Perschitz)

Petersdorf

Plohe

Prieswitz Kreis Sprottau

Primkenau Kreis Sprottau

Redendorf

Reichenau Kreis Zittau

Rodetal Kreis Glogau

Rosenig Kreis Liegnitz

Rosenthal bei Breslau

Saabe Kreis Namslau

Sagan

Scheibsdorf

Schloin Kreis Grünberg

Schmolz Kreis Breslau

Seitendorf Kr. Waldenburg

Spalitz Kreis Oels

Sprottau

Steinersdorf Kreis Namslau

Sterzendorf

Strehlitz Kreis Oels

Tiefensee Kreis Strehlen

Tschiebsdorf

Waren

Welkersdorf Kreis Löwenberg

Zedlitz Kreis Breslau

Zerbau Kreis Glogau

Zerben Kreis Glogau

 

Oberschlesien:

Beuthen

Birkental

Groß Strehlitz

Klingebeutel Kreis Ratibor

Kunzendorf/Oberschlesien

Leobschütz

Neiße-Neuland

Wittgenau Kreis Grünberg/Oberschlesien

 

Sudeten:

(Asch)

Aussig

Bilin

Blauendorf

Böhmisch-Leipa

Bodenbach

Dittersbach

Dumbitz-Neudanbitz Kreis Rumburg

Freudental

Großborowitz Kreis Hohenelbe

Hilgersdorf

Jägerndorf und Komrise bei Jägerndorf

Kesselsdorf/Ostmähren

Ketzelsdorf oder Kesselsdorf bei Zwittau

Limbach/Böhmen

Lobenstein

Mährisch Ostrau

Maria-Ratschütz

Marschendorf IV Kreis Trautenau

Neulitschen

Niederkoblitz

Niederottendorf

Oberadersbach

Oberhohenelbe Kreis Hohenelbe

Plauenhof

Podiwin Kreis Leitmeritz

Römerstadt

Sagan/Sudeten

Schluckenau

Sucha

Teplitz-Schönau

Trappau

Trauschkowitz bei Komotau

Wedlitz

Wegstädtl

Weißkirchlitz bei Tepl.-Schönau

Welsotta bei Lobositz

Wesseln Kreis Aussig

Wscherau bei Pilsen

Zuckmantel/Freiwaldau  bei Tepl.-Schönau

 

Ostpreußen:

Ahrenswalde

Antoniew

Bartenhof

Baydritten Kreis Königsberg

Behlaken (Bilaken)

Bekarten Kreis Preußisch Eylau

Birkbruch Kreis Friedeberg

Birstonichken Kreis Tilsit

Brendleben

Carlsdorf Kreis Insterburg

Elbing

Fischhausen

German/Samland

Groß-Sudnicken/Samland

Grünhof

Hubnicken Kreis Fischhausen/Samland

Insterburg

Klein Dirschheim Kreis Samland

Klein Junkeln Kreis Angerburg

Kleindürschheim

Königsberg

Kogen  Kreis Königsberg

Kumenen

Labiau

Linken Kreis Königsberg

Lubishof Kreis Preußisch Eylau

Memel

Memento Kreis Preußisch-Holland

Mosecken

(Neukuhren)

Paballen

Pekallnischken Kreis Gumbinnen

Perwinnen

Perwissau/Memelland,

Pitzkendorf Kreis Marienburg

Podewitten

Preußisch Eylau

Rastenburg

Reggen Kreis Westernburg

Rositen

Stum

Thomareinen bei Allenstein

Tulinsterburg

Wanghausen

Wilkau

 

 

Westpreußen:

Dirschau

Forsthausen Kreis Straßburg

Graudenz

Leinefelde

Liebenau Kreis Wongrowitz

Nakel

Rheinsberg

 

Pommern:

Alt-Damerow

Barzwitz

Damerko Kr. Bütow

Elisabethtal Kr. Bütow

Greifenberg bei Stettin

Groß Garde (Hinterpommern)

Groß-Pomirke Kr. Bütow

Großenhagen Kreis Naugard

Kalis

Kleingade

Klein Ristow Kreis Schlawe

Morgenstern Kr. Bütow

Platenheim Kr. Bütow

Rügenwalde

Stettin

Wittstock Kreis Stolp

 

Posen:

Arnswalde Kr. Wirsitz

Elsenau Kreis Eichenbrück

Gollin Kreis Deutsch Krone

Kempen/Posen

Kolmar

Kreuz

Latschin

Langolin

Leisen Kreis Lissa

Märkisch Friedland

Moorschütz Kreis Kempen

Pottlitz Kreis Flatow

Rotschin

Strzpzemin Kreis Birnbaum

 

Brandenburg (jenseits der Oder)

Christophswalde bei Landsberg

 (Kunzendorf bei Sorau)

Landsberg

Morsan Kreis Züllichau

Mosau Kreis Züllichau

Rentschen Kreis Züllichau

Soldin

Sorau

 

Neumark:

Bealien

Groß Latzkow

Hescht Kreis Friedeberg

Hohenwutzen

Mohrin

Neudamm

Neu-Lipke

Riegersdorf

 

Danzig:

Danzig

Einlage

Konitz

Neufahrwasser

Oliva bei Danzig

Schuddelkau

Tiegendorf (Obertiegendorf)

Tralau

Zoppot bei Danzig

 

Polen:

Belsien Kreis Scharnikau (Warthegau)

Blota Krupinskie

Buszcanowice Kreis Lask

Faustinow bei Lodz

Filehne (Warthe)

Gnasdorf

Golgow

Huta bei Lodz

Jagenau Kreis Wreschen (Warthegau)

Jasinek

Kalisch (Warthegau)

Kamien (Warthegau)

Kamin bei Lodz

Kamin Kreis Belchatow

Karolin

Kleszczow bei Belchatow

Klestau (Warthegau)

Klesterem

Kuzow Kreis Lask

Langoslin

Marianowka

Neu-Wola (Umsiedlerlager für Bessarabiendeutsche)

Petrikau

Pozdzenice Kreis Lask

Radom

Ratschin (Warthegau)

Rogowic Kreis Lask

Stawek Landkreis Dietfurt/Wartheland

Stronie Slaskie

Teofilow bei Lodz

Teresin

Tuchingen

Warschau

 

Baltikum:

Bijoten

Riga

 

Rumänien:

Bustenie

Lichtenburg/Bukowina

Kronstadt/Siebenbürgen

 

Russland

Glücksthal, Odessa-Gebiet

Dombrowene Kreis Rowne

Klepatschow

Maraslienfeld, Bessarabien

 

Ukraine:

Alexandrowka/Wolhynien

Alt-Lubomirka

Antonjew/Wolhynien

Johannesfeld

Konstantinow

Luzk/Wolhynien

(Rovno)

 

Nicht zugeordnet:

Alt-Lizke

Beyersdorf

Klein-Sturndorf

Lipa

Rauno

Richardswalde

 

Wie viele Schicksale stehen hinter diesen Namen!

 

Die Vorbereitung des schrecklichen Krieges begann intensiv in den 30iger Jahren. Unsere Heide wurde zum Militärobjekt, ein großer Militärflugplatz bei Jüterbog wurde gebaut. Dörfer verschwanden vom Erdboden: Die Menschen wurden umgesiedelt. Ein solches Dorf war Felgentreu, von dort kam eine Familie nach Gentha.

 

Der Krieg brachte großes Leid über die Völker, insbesondere auch im Osten, über Russen, Polen, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Balten. Die Liste der Ermordeten ist lang (Sowjetunion: 22 Millionen!), auch der dem Erdboden gleichgemachten Orte: „Allein in Weißrußland wurden von 9.200 Dörfern 4.885 während des Krieges verbrannt, 627 von ihnen mitsamt der Bevölkerung, welche man vorher in einer Scheune, einer Kirche o. ä. zusammengetrieben hatte.“ (Nolte, Hans-Heinrich: Kleine Geschichte Rußlands, S. 256).

 

Im Jahre 1995, 50 Jahre nach Kriegsende, gab es in der Seydaer Kirche eine Deutsch-Polnische Andacht. Im Rahmen des Deutsch-Polnischen Jugendaustausches waren Jugendliche aus Zary (früher Sorau) nach Seyda gekommen. Gemeinsam wurde für den Frieden gebetet und gedankt für die Zeit des Friedens. Das Besondere war, dass evangelische und katholische Christen verschiedenen Alters beieinander waren,

Deutsche und Polen, die zum Teil in der gleichen Gegend, im gleichen Ort aufgewachsen waren. Eine solche Andacht gab es von da an jedes Jahr. Auch am Volkstrauertag und mit einer Tafel an der Friedhofshalle wird in Seyda an die Menschen gedacht, die damals ihre Heimat verloren.

 

Es bleibt eine wichtige Aufgabe, den Frieden zwischen den Völkern zu suchen.

***

 

Jesus Christus spricht:

„Selig sind, die da Leid tragen,

denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen,

denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die Frieden stiften,

denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

 

„Meinen Frieden gebe ich Euch.

Nicht gebe ich Euch, wie die Welt gibt.

Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“

 

(Schriftlesung beim jährlichen Gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zum Volkstrauertag in Seyda.)

 

***

Vielen Dank der Stadtverwaltung Jessen, Außenstelle Seyda, und dem Seydaer Heimatverein für die Erlaubnis, in Unterlagen zu diesem Thema Einsicht zu nehmen. Besonderen Dank auch Frau Kosa für ihren Erlebnisbericht.

Die Karte ist aus dem Schulatlas meiner Großmutter: Diercke-Schulatlas für höhere Lehranstalten, Grosze Ausgabe, 67. Auflage, Braunschweig 1928, Seite 154.

 

Seyda, 12. November 2006.