Die

Geschichte

der

Kirche

in

Seyda.

  

6. Die Weimarer Republik und das Dritte Reich   

    (1919-1945)

 

Der Weltkrieg, der mit solchem Jubel begonnen wurde, war verloren. Der Kaiser hatte abgedankt, große Not war im Land: und viele Männer, Väter und Söhne kehrten von den Schlachtfelder in ganz Europa nicht zurück. Die Chronik der Turmkugel nennt die Zahl von 123 für Seyda.

Eine Parteiendemokratie hatte die Herrschaft übernommen: eine neue Regierungsform für Deutschland, die von Anfang an stark angefeindet und auch abgelehnt wurde: Man schob ihr die Schuld für die Niederlage und die schwierige wirtschaftliche Lage Deutschlands zu, obwohl sie für das Geschehene gerade nicht verantwortlich war.

Mit der Abdankung des Kaisers endete auch das „konstantinische Zeitalter“, was einmal im 4. Jahrhundert begonnen hatte. Seitdem war der Kaiser Christ gewesen, und die Kirche stand unter seinem Schutz. Der letzte Kaiser war für die evangelische Kirche sogar ein „summus episcopus“: der höchste Bischof.

Das wurde nun anders, die Kirche mußte sich neu organisieren und ihren Platz in einer demokratischen Gesellschaft finden, in der sie zwar Unterstützung fand, aber nicht mehr in dem Maße, wie es bisher geschehen war. Es gab allerdings auch Stimmen in der Kirche, die diese Entwicklung begrüßten: sahen sie darin doch eine neue Freiheit der Kirche, unabhängig von den Machthabern ihrer Sache treu zu bleiben. Die allgemeine Stimmung aber, auch in Seyda, war darum bemüht, so viel wie möglich vom Alten zu retten - sogar mit der stillen Hoffnung, vielleicht wieder einen Kaiser zu haben und die „gute alte Zeit“ zurückzuholen. Auch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in der Bergstraße erinnerte daran.

 

Der Weltkrieg hatte drastische wirtschaftliche Folgen. Über die Not der Bevölkerung im Weltkrieg ist schon berichtet worden, sie zog sich noch weit in die Nachkriegszeit hinein.

Manche hoffnungsvollen Projekte, die man vor 1914 hatte, konnten nicht mehr realisiert werden. In unserer Gegend war zum Beispiel der Bau eines Kanals zwischen dem Elbknick und Berlin geplant. Er sollte zwischen Elster und Listerfehrda beginnen und an Seyda vorbeigehen. Die Pläne waren schon fertig, wurden aber nie ausgeführt.

 

Der verlorene Krieg zog auch in Seyda mancherlei Einsparungen und Kürzungen nach sich: So schlossen drei der sechs Gasthäuser: Die Brauerei Matthies (Neue Straße/Ecke Jüterboger Straße; heute: Witkowski, Bergholz, Hempel); der „Rote Hirsch“ (jetzt Schreibwaren Groitzsch; Anfang der Dreißiger Jahre benannte man dann ein anderes Lokal an der Westseite des Marktes so) und das Hotel „Zum Deutschen Kaiser“ (früher „Zum Anker“) in dem Haus in der Bergstraße 1, wo sich heute die Stadtverwaltung befindet. Dort, wo das Standesamt ist, waren auch von 1889 bis 1914 die königlichen Hengste stationiert.

Die Zeitung meldete: „Der preußische Minister des Inneren hat die Polizeistunde auf 10 Uhr angewiesen (zuvor 11 Uhr, Sonnabend 11 ½ Uhr). Eine Folge der schlechten Kohlenversorgung.

Der Reichstagsabgeordnete Hemeter fragt bei der Reichsregierung an, ob die Maßnahmen für den Heimtransport der Gefangenen aus Sibirien so beschleunigt werden können, dass sie noch vor Beginn des sibirischen Winters die Heimat erreichen.“

(Seydaer Stadt- und Landbote vom 30. März 1920).

 

Als Folge des Krieges und einer Zerstörung der alten Ordnung war auch die Zunahme von Brutalität und Verrohung zu spüren:

Im April 1920 schändeten Kinder zum wiederholten Male und „in gröbster Weise“ Grabstätten auf dem Seydaer Friedhof.  (Stadtverordnetenversammlung am 10. April 1920.).

Die schlechte Versorgungslage führte zur Wilderei. Die Forstleute suchten dem Einhalt zu gebieten. Doch ein Menschenleben schien nicht mehr so viel zu zählen - nachdem man im Krieg ja vier Jahre lang auf Menschen zielen mußte -: Der Forstpraktikant Sterz wurde 1921 in der Heide erschossen. Noch heute erinnert daran ein Grabmal, das Sterz-Denkmal. Es befindet sich ca. 6 Kilometer vom Ortseingang Seyda entfernt. Den letzten Weg links vor der Heimateiche muß man einbiegen, dann sind es noch ca. 500 Meter.

Es war eine ganze Gruppe von Wilderern gewesen, die man ausfindig machte, die aber so zusammenhielten, dass man den, der den tödlichen Schuß abgab, nicht identifizieren konnte. Es ist wohl signifikant für diese Zeit der zerbrochenen Ordnungen, dass man sich nicht zu helfen wußte und deshalb eine Hellseherin aus Berlin bestellte. Sie wurde vom Bahnhof in Linda abgeholt und ließ sich an die Unglücksstelle bringen, an dem Sterz im Morgengrauen erschossen worden war. Dann soll sie mit dem Staatsanwalt in der Kutsche durch die Heide bis nach Seyda gefahren sein, angeblich hat sie den Weg gezeigt, obwohl sie noch nie hier war. Genau vor der Tür des Schuldigen ließ sie anhalten. Aber das war natürlich (zum Glück!) kein Beweis für ordentliche Gerichte!

Danach mietete sich ein Kriminalbeamter als Forstgehilfe getarnt im Schützenhaus ein. Der Fall konnte jedoch nicht geklärt werden.

Schließlich setzte sich einer der bekannten Wilddiebe nach Amerika ab. Man nahm an, er sei es gewesen. Ein anderer Wilddieb hatte einen Streifschuß bekommen, ließ sich aber auswärts behandeln, um nicht aufzufallen.

Im Jahre 1956 hat der Schuldige seine Tat auf dem Sterbebett seinem Nachbarn gebeichtet. Er konnte mit dieser Schuld nicht sterben.

Was sagt man als Pfarrer zu dieser Geschichte? So sehr Skepsis gegenüber jemandem, der sich als Hellseherin ausgibt, angebracht ist, so ist es doch wohl so, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir nicht erklären können. Auch das Böse hat eine große Macht. In der Bibel wird vor dem Umgang mit Hellseherei und dergleichen Dingen gewarnt aus der Erfahrung, dass dahinter tatsächlich Mächte stecken, die uns beherrschen wollen. „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ mit diesen Worten legte Martin Luther das 1. Gebot aus.

Die Geschichte zeigt aber auch, wie drückend Schuld sein kann, und wie heilsam eine Beichte ist. Dazu ist die Kirche auch da: Dass man dort solche Lasten loswerden kann. Dafür starb Jesus am Kreuz.

 

Neben diesen großen Nöten und manchem Merkwürdigen gab es natürlich das Alltagsleben. Endlich konnte wieder ein Kinderfest stattfinden! Die Schulchronik berichtet 1919: „Am 24. August, nach 6 Jahren, wieder Kinderfest. Es wurde in altgewohnter Weise gefeiert. Auf dem Festplatz sprach Bürgermeister Andrae und schloß mit einem Hoch auf unser liebes Seyda. Die Kinder bekamen Kaffee und Kuchen. Höhepunkt war die Verlosung, obwohl die Gewinne nicht sehr groß ausfielen. Nach dem Einzug das Schlußwort des Lehrers Brantin und das Lied „Nun danket alle Gott“.“

So war es bis 1956 üblich, der Einzug erfolgte vom Schützenhaus zum Markt.

 

Ein bis heute begangenes Fest sind die Fastnachten in Seyda. Das hängt auch damit zusammen, dass zu diesem Vergnügen am Ende der Winterzeit noch jedermann Zeit hatte: nämlich bevor die Arbeit in der Landwirtschaft wieder losging. Wohl weniger dachte man dabei an die „Nacht vor dem Fasten“, die Fastenzeit vor Ostern ist dabei kaum im Bewußtsein.

Es gibt Kinder-, Männer- und Jugendfastnachten. Damals fanden sie auf verschiedenen Sälen statt. Bei „Borschtes“ in der Wittenberger Straße haben die  Jugendfastnachten oft angefangen, auch bei „Pätz“ im Roten Hirsch auf dem Markt war man beieinander zur Kinder- und Männerfastnacht. Ganz Seyda war da auf den Beinen!

„Asche kehren“ hieß ein Brauch am Aschermittwoch. Die Kinder gingen mit einer Rute aus Birkenholz durchs Städtchen, an den Stock wurden die Brezeln gehängt, die sie einsammelten. Auch die Jugend ist durch die Stadt gezogen, verkleidet, mit Handwagen und mit Musik. Am Fahrrad, wenn vorhanden, war meist eine Hupe, so dass man sie schon von weitem kommen hören konnte. Auch sie bekamen Schaum-, Mohn- oder Salzbrezeln, ab und zu auch einen Groschen.

Die alten Platzmeister gingen mit einer Kiepe „zempern“. Bratwürste und Eier wurden gesammelt, und dann abends beim Zemperball im Schützenhaus gegessen. Bei diesem Besuch in den Häusern gab es Essen und Schnaps, mit den Mädchen wurde getanzt. Die Mädchen machten den Platzmeistern ein buntes Band an Hut oder Rock. Auch mit den Müttern wurde natürlich eine Runde gedreht.

Schließlich kam noch die „Polizei“ vorbei, die hat Geld gesammelt, auch für den Abend. Und da wurde dann nicht selten Polonaise auch auf den Tischen und durchs Fenster getanzt. (Erzählt beim Gemeindenachmittag 1999).

 

Doch zurück zu den Sorgen dieser Tage: Die finanziellen Engpässe wirkten sich auch ganz direkt auf die kirchliche Arbeit aus:

„Oktober 1920... Die Kirchengemeinde Seyda muß infolge der finanziellen Notlage der landeskirchlichen Behörden auf eine 2. Pfarrstelle (ist bereits seit 13.12.1916 unbesetzt) verzichten. Wegen der hohen Kosten, welche die laufende Unterhaltung der Gebäude erfordert, soll ihr Verkauf sobald als möglich erfolgen und zwar nicht gegen Bargeld, sondern gegen Austausch von Acker- oder Wiesengrundstücken.“ (Heimatkurier 10/1995, S.  3, aus: SSLB im Oktober 1920. Das Haus Kirchplatz 2 gehört uns heute noch und war im 20. Jahrhundert mit seinen vielfältigen Bewohnern ein großer Segen für die Kirchengemeinde.).

Wenn man bedenkt, was dieser zweite Geistliche, zum Beispiel Pastor Heinecke, alles geleistet hat, so war die Einsparung der 2. Pfarrstelle ein herber Verlust. Die Gemeinden Mellnitz und Morxdorf wurden nun vom „Oberpfarrer“ mit betreut. Er mußte schlimmstenfalls zu Fuß gehen, auch mit dem Rad sind die Pfarrer später gefahren, zur Kirche aber wurden sie damals meist mit der Kutsche oder später mit dem Taxi abgeholt. (Ein Taxifahrer war zum Beispiel Herr Rudolf Krüger aus der Neuen Straße 23.).

 

Wie willkommen war in dieser schweren Zeit die Verteilung der Kolonieländereien an Seydaer Bürger: also solcher Flächen, die die Beschäftigten der Arbeiterkolonie urbar gemacht hatten! Brachte ein zusätzliches Stück Land doch neue Ernährungs- und Einnahmequellen. (SSLB 10.1.1920).

 

„Nach dem 1. Weltkrieg befand sich die Arbeiterkolonie nach 39 Jahren in einer sehr schlechten wirtschaftlichen Lage und stand 1924 vor dem Zusammenbruch. Die Provinzialverwaltung in Merseburg übernahm die Anstalt in Seyda, nahm umfangreiche Um- und Ausbauten vor, um eine „Landwirtschaftliche Lehranstalt“ zu eröffnen. Sie bot 90 schulentlassenen Fürsorgezöglingen ein neues Zuhause und eine Ausbildung in einem landwirtschaftlichen Beruf.“

(Bärbel Schiepel: Abschlußarbeit im Rahmen der Sonderpädagogischen Zusatzausbildung, Vorstellung des Diest-Hofes, 24. März 1998.).

In der „Landwirtschaftlichen Lehranstalt“ konnten die „Zöglinge“ versäumte Schulkenntnisse nachholen sowie in einer großen Gärtnerei mit der Arbeit in der Landwirtschaft sowie einigen Handwerksberufen vertraut werden. (Heimatbuch 52).

„Der Übernahme gingen umfangreiche Um- und Ausbauten voraus, um 90 Zöglingen ein neues Zuhause zu geben. Die Jungen wurden in Lehr- und Dienststellen bei Handwerkern und Bauern der Umgebung vermittelt. 1930 wurde die Anstalt für die Zöglinge verlegt, und Seyda wurde bis Kriegsende wieder Arbeiterkolonie.“ (Heimatbuch 53).

Seelsorger für die Jungen war auch Pastor Voigt aus Gadegast.

 

Eine Folge der schlechten Wirtschaftslage war die Inflation, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte. Das „Ansteigen“ der Lehrergehälter macht es deutlich: Für eine Stunde Unterricht gab es im August 1922 86 Reichsmark, von September bis Dezember 165 Mark, im Januar 1923 440 Mark, im Februar 880 Mark, im März 1.100 Mark... (Seydaer Schulchronik 1922/23).

Ein Ei kostete 1923 40.000 Mark! (Geschichte der Kirche in Zemnick).

Schließlich wurden 1 Billion Papiermark gleich einer neuen Reichsmark!

Die Auswirkungen auf die Kirchengemeinde beschreibt Pastor Dr. Graf in der Turmkugel 1929:

 „Kirchliche Abgaben haben wir bis 1924 nicht gehabt, das Opfergeld ist der Geringfügigkeit wegen nicht eingezogen worden, Läutegeld, Haugeld und Rente waren abgelöst. Die Kirche hatte einen Vermögensbestand von über 100.000 M, die Oberpfarre ca. 26.000 M und außerdem die Pächte des Pfarrguts Zwuschen, nach dessen Verkauf, wie schon geschrieben, den Vermögensbarzuwachs. Diakonat, Küsterei, Kantorat hatten ebenfalls einen Fonds. Durch die Inflation sind die so sicher in Staatspapieren angelegten Gelder verschwunden, und so waren die kirchlichen Vertretungen gezwungen, die Kirchensteuer einzuführen, welche dann 1925 zum ersten Male erhoben wurde. Trotzdem dieselbe sehr mäßig war, rief sie viel Unwillen hervor; aber Austritte aus der Kirche haben nicht stattgefunden.“

(Jedenfalls nicht gleich... Gerhardt, Heimatbote 16.9.1927).

 

Eine Gastwirtschaft in Seyda wurde 1919 gekauft, die Raten waren durch die Inflation „schnell“ bezahlt... Ähnlich ging es mit manchen Auszahlungen. Ein Rucksack voller Geld war schnell beschafft!

 

Die drückende Not veranlaßte viele, ihr Glück in den weiter anwachsenden Städten zu suchen. Die Einwohnerzahl sank weiter, auch durch den Geburtenausfall im Ersten Weltkrieg. So zählte Schadewalde 1924 96 Einwohner, 1940 waren es 88.

 

Am Anfang des Jahres 1926 wurde Oberpfarrer Dörge pensioniert. Eine Erinnerung an ihn ist zum Beispiel die, dass er immer seine Predigten auf dem Weinbergsweg am Ortsausgang Richtung Mellnitz memorierte, also auswendig lernte! Nach der Verwaltung des Pfarramts im Auftrag des Konsistoriums durch den pensionierten Pfarrer Arnold erfolgte zum 1. September 1926 die Berufung von Pfarrer Dr. phil. Theodor Graf.

1928 wurde die Superintendentur Zahna, die seit 1878 bestand, aufgelöst, „wegen Ersparniskosten der Verwaltung“, Seyda kam zum Kirchenkreis Jessen. Pastor Voigt aus Gadegast rettete die „Heimatgrüße“ als Evangelisches Monatsblatt (bisher „des Kirchenkreises Zahna“) jedoch noch bis 1936.

 

Im Juli 1926 fand das „Gauturnfest des Sachsengaues“ in Seyda statt, und es gab Überschwemmungen:
„,In der Tat befinden sich von den Kolonieländereien etwa 350 Morgen vollständig unter Wasser. Von den Kartoffeln, Rüben, Klee und Seradella ist nichts mehr zu retten. Da der Mutterboden des Koloniegeländes aus Torf besteht, wird für längere Zeit eine Bearbeitung des Ackers nicht möglich. Die Besichtigung konnte nur in Langstiefeln vorgenommen werden. Verwesende Tierkörper und Pflanzenstoffe verbreiten einen unangenehmen Geruch.´ Im Ganzen ist mit einem Ernteausfall von 850 Morgen zu rechnen, was für Seyda einen großen Schaden bedeutet. In vielen Kellern ist das Wasser infolge der Wolkenbrüche und des anhaltenden Regens noch gestiegen.“
(Bärbel Schiepel in HK 8/1996, S. 5;  nach: Heimatkalender 1927 und SSLB vom 22. und 29.6.).

Dadurch kam es auch zu einer großen Mückenplage beim Beerensammeln, der man mit Mottenkraut Herr zu werden suchte.

 

Zum Alltagsleben in Stadt und Kirchengemeinde gehörte der Frauenverein. Im Stadtblatt, dem „Seydaer Stadt- und Landboten“, der seit 1919 erschien, konnte man am 30. Oktober 1926 lesen: „Seyda, 20. Okt. (E.B.) Am gestrigen Mittwoch fand bei Gastwirt Bergholz die Generalversammlung des Frauenvereins statt. Nachdem der Schriftführer, Pastor Voigt, einen kurzen Rückblick von der durch die Kirchengemeinde Seyda, Gadegast, Zemnick, Morxdorf und Mellnitz am 28.10.1906 vorgenommenen Gründung zum Zweck der „Krankenpflege auf dem Lande“ an - bis zum heutigen Tage, also genau 20 Jahre - gegeben hatte, erstatte er des Näheren Bericht über die Mitgliederzahl und den Kassenbestand. Der Verein hat 130 Mitglieder...“ Der Vorstand wird neu gewählt, Pfarrer Dr. Graf wird Schriftführer.

 

Die alte Zeit nimmt immer mehr Abschied:

„Am 14. Dezember 1927 fuhr die alte Pferdepost das letzte Mal. Sie vermittelte den Post- und Personenverkehr seit 1816. Ein Postillon, der Galauniform trug, blies zur letzten Fahrt die Signale und ein Abschiedsliedchen. Vom 15.12. ab übernimmt die Seydaer Firma Lenz & Wolter mit dem modernen Verkehrsmittel, dem Autoomnibus, die Vermittlung der Postsachen und einen dreimaligen Personenverkehr. Damit ist unser abgelegenes Städtchen an das große Bahnnetz Deutschlands angeschlossen. Die Verabschiedung der alten Pferdepost fand unter reger Beteiligung von Seydaer Bürgern, der Stadt- und Postverwaltung von Zahna und vieler Bewohner Zahnas in feierlicher Weise hier auf dem Marktplatz, in Zahna am Rathause und Postgebäude und später im Rathaussaale statt. Die Schule wohnte der Feierlichkeit auf unserem Marktplatze am 14. Dezember 1927 10 Uhr vormittags bei.“ (Schulchronik Seyda, 1927/28).

1928 wurde auch die Zahnaer Straße neu gepflastert, zum Teil ist dieser Belag heute noch zu sehen.

 

Am 15. August 1929 überquerte das Luftschiff „Graf Zeppelin“ auf seiner Weltreise Elster. „Alt und jung stand auf der Straße und bestaunte dieses Wunderwerk der Technik.“ (Aus den Heimatglocken, Gemeindeblatt für Elster; wieder abgedruckt im HK vom 14.10.99, S.  3).

In den Schulen wurden Aufsätze geschrieben: Was wird sich durchsetzen, der Zeppelin oder das Flugzeug? Und viele dachten, der Zeppelin wäre die Zukunft.

 

Einer, der alle diese Jahre begleitet und geprägt hat, war der Kantor und Lehrer Schmalz. 44 Jahre war er im Schuldienst, von 1909 bis 1953, und hat Generationen von Schulkindern geprägt.

So ist vielen noch in Erinnerung, dass in jedem Jahr am Heiligen Abend die Konfirmanden von der Empore sangen:

 

„Dies ist die Nacht, da mir erschienen

des großen Gottes Freundlichkeit;

das Kind, dem alle Engel dienen,

bringt Licht in meine Dunkelheit,

und dieses Welt- und Himmelslicht

weicht hunderttausend Sonnen nicht.

 

Laß Dich erleuchten, meine Seele,

versäume nicht den Gnadenschein;

der Glanz in dieser kleinen Höhle

streckt sich in alle Welt hinein;

er treibet weg der Höllen Macht,

der Sünden und des Kreuzes Nacht.

 

In diesem Lichte kannst Du sehen

das Licht der klaren Seligkeit;

wenn Sonne, Mond und Stern vergehen;

vielleicht noch in gar kurzer Zeit,

wird dieses Licht mit seinem Schein

Dein Himmel und Dein Alles sein.

 

Laß nur indessen helle scheinen

Dein Glaubens- und Dein Liebeslicht;

mit Gott mußt Du es treulich meinen,

sonst hilft Dir diese Sonne nicht;

willst Du genießen diesen Schein,

so darfst Du nicht mehr dunkel sein.

 

Drum, Jesu, schöne Weihnachtssonne,

bestrahle mich mit Deiner Gunst;

Dein Licht sei meine Weihnachtswonne

und lehre mich die Weihnachtskunst,

wie ich im Lichte wandeln soll

und sei des Weihnachtsglanzes voll!“

 

(Evangelisches Gesangbuch Nr. 40; nach der Melodie „O dass ich tausend Zungen hätte“ gesungen, wie auch das Lied von einem Seydaer 240).

Daheim unter dem Weihnachtsbaum war es üblich, das Lied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ zu singen.

1928 gab es zum 2. Weihnachtsfeiertag einen Theaterabend. Das übliche Weihnachtskonzert mit der Stadtkapelle wurde mit diesem Abend verbunden.

Das Theaterspielen war damals, als es noch keinen Fernseher gab, sehr beliebt. „Puppen-Richters“ lebten über Generationen im Haus in der Triftstraße 11, sie waren professionelle Puppenspieler und führten viele Märchenspiele auf.

 

Im Jahr der großen Weltwirtschaftskrise, 1929, mußte die Seydaer Turmkuppel abgenommen werden: „Ein orkanartiger Sturm hatte jüngst an der Turmhaube - namentlich auf der Südwestseite - eine Reihe von Schiefersteinen herabgeschleudert und auch viele gelockert, die herabzufallen drohten...“.

Deshalb haben wir von diesem Jahr einen Bericht von Pfarrer Dr. Graf, auch mit einer Abschrift der alten Dokumente seit 1708.

Er berichtet über die Finanzprobleme der Kirchengemeinde: Kirchensteuer muß nun erhoben werden... Es gibt auch einen Mangel an Theologiestudenten in der Provinz Sachsen, 400 Pfarrstellen konnten nicht besetzt werden.

Trotz allem aber wird die Turmspitze wieder vergoldet, auch der Turmknopf und die Zeiger, wenn es auch heißt: es „fällt der Gemeinde schwer“. Er kann schreiben: „Hier in Seyda sind bisher keine Kirchenaustritte erfolgt.“ Doch gibt es eine „große Sektenpropaganda“, die „Weißenberger“ und die „Zeugen Jehovas“ sind rege tätig, aber nur eine kleine Familie gehört zu den Weißenbergern.

Joseph Weißenberg (1855-1941) ist die zentrale Figur der „Johannischen Kirche“, deren Anhänger deshalb auch „Weißenberger“ genannt werden. Er war als Heiler tätig (deshalb ist er in unserer Gegend auch als „der Quarkdoktor“ bekannt gewesen), und er traf prophetische Vorhersagen, die allerdings nicht immer eintrafen. 1926 gründete er die „Johannische Kirche“ und behauptete, als personhafte Offenbarung Gottes in einer Reihe neben Mose und Jesus zu stehen. Bei Trebbin gründete er eine „Friedensstadt“, das „himmlische Jerusalem“. Eine Gemeinde der „Johannischen Kirche“ gibt es heute noch in Elster, im Ganzen hat die Gemeinschaft jetzt ca. 6.000 Mitglieder und ist insbesondere karitativ engagiert.

Die „Zeugen Jehovas“ sind noch in Seyda unterwegs, nachdem sie den Weltuntergang bereits für 1874, 1914, 1915, 1916, 1918, 1925... 1975 und nun aber als „unmittelbar bevorstehend“ angekündigt haben; eine schlimme Sekte, die viele auch heute in totale geistige und materielle Abhängigkeit treibt.

Eine dritte „Sekte“, die in Seyda bisher Anhänger fand, ist die „Neuapostolische Kirche“; bis zur Mitte der 90iger Jahre existierte auch ein Versammlungsraum in Seyda.

Solche Gemeinschaften gab es eigentlich zu allen Zeiten, jedoch ist insbesondere seit 1918 die Auseinandersetzung mit ihnen auf das geistige Feld beschränkt, was auch gut ist. Deshalb aber können sie sich anders ausbreiten als zu Zeiten der Staatskirche, wo es oft als eines der größten Verbrechen angesehen wurde, jemandem das Seelenheil durch eine fremde Lehre unmöglich zu machen (die ewige Seligkeit wog ungleich mehr als zum Beispiel jemandem etwas zu stehlen oder ihn zu belügen). Doch hören wir weiter, was Pastor Dr. Graf 1929 über seine eigene Kirchengemeinde zu berichten hat:

 „... der Kirchenbesuch ist im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich zurückgegangen, er umfaßt hier in Seyda an gewöhnlichen Sonntagen durchschnittlich gerechnet ca. 40-50 erwachsene Gemeindeglieder (vorwiegend Frauen), dazu kommen noch ca. 15 Lehrlinge der Landwirtschaftlichen Lehranstalt und einige Konfirmanden. An den Fest- und Feiertagen ist die Kirche gefüllt.“

„Erschreckend ist der allgemeine Geburtenrückgang in unserm Volk, der auf 1/3 der Vorkriegszeit gesunken ist.“ (Das „Heimatbuch“ nennt auf S. 52 für Seyda im Jahre 1930 1284 Einwohner.).

Der Pastor beklagt auch eine große „Vergnügungs- und Verschwendungssucht“ - ein wenig sind die „Goldenen Zwanziger Jahre“ wohl trotz aller Not auch in Seyda angekommen.

Kurz nach diesem ausführlichen Bericht, dessen großer politischer Teil noch erwähnt werden wird, ist der Pfarrer schwer erkrankt: über 1 ½ Jahre muß er in Krankenhäusern zubringen, im Juli 1931 wird er pensioniert.

(„Pfarrer“ - bezeichnet die Zuständigkeit für einen eingegrenzten Bereich, hier Seyda, Lüttchenseyda, Schadewalde, Morxdorf, Mellnitz; „Pastor“ heißt auf lateinisch „der Hirte“ und sieht auf die Gemeindeglieder, die ein Pastor betreut. Die Begriffe werden meistens beide gleichwertig verwendet (zwischenzeitlich jedoch wurde damit auch einmal die Ausbildung unterschieden), in Seyda sagte man gewöhnlich wohl „Pastor“, wenngleich es immer die „Oberpfarre“ war; beim „Pfarrer“ klingt die Verantwortung auch für die, die nicht Gemeindeglieder sind, ein wenig mit. Dienstbezeichnung ist heute: „Pfarrer“.)

 

Seyda erlebte seine erste „Vakanzzeit“, also eine Zeit ohne einen festen Pfarrer. Von Juli 1931 bis zum Juli 1932 waren in Seyda tätig: Herr Pfarrer in Ruhe Dr. Rausch aus Prettin, Herr P. Küsel (Pfarrer in Mügeln und Verwalter der Arbeiterkolonie Seyda; die Pfarrvikare Schmidt und Mücksch (in der Ausbildung). Außerdem wirkten als Vertreter Pastor Voigt aus Gadegast und „Herr P. Springborn, ein 83jähriger, aber noch sehr energischer, fleißiger Herr im Ruhestande aus Jüterbog, der mit voller Hingebung und starkem Willen beseelt war, die unsittlichen Zustände dieser Gemeinde, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelten, zu bessern.“ (Seydaer Schulchronik 1932).

Trotz dieser Schwierigkeiten konnte 1931 Strom in die  Kirche gelegt werden, insbesondere für das elektrische Gebläse der Orgel. Der Blasebalg blieb aber auch noch weiter mechanisch funktionsfähig: heute noch kann man sehen, wo die Füße hineingestellt werden mußten; mancher Konfirmand hat dort schwitzend Luft für die Orgelpfeifen produziert und wurde durch die „Klingel“ erinnert, stärker zu treten.

1931 konnten endlich auch die Prospektpfeifen der Orgel erneuert werden, die - wie im ganzen Land - mit den Glocken als Metallspende im Weltkrieg 1917 abgegeben werden mußten. Zinnpfeifen, wie sie im Original gewesen waren, konnte man sich (bis heute) nicht leisten, sie sind aus Zinkblech gefertigt.

 

Bevor nun von ganz dunklen Zeiten der deutschen und damit der Seydaer Geschichte berichtet werden muß, soll noch etwas Heiteres aus diesen Jahren erzählt werden. Waren es doch für viele einfach auch Kinder- und Jugendjahre, von denen sie glückliche Stunden in Erinnerung haben.

Die „Heimatgrüße“ berichten vom 28. Juni 1931: „Unser Frauenverein, der im Herbst sein 25jähriges Stiftungsfest feiern wird, hatte heute eine seiner beliebten Sommertagungen im Schützenhause, zu der uns auch der Gründer des Vereins, Herr Pfarrer Heinecke aus Berlin, besuchte, der einige Tage seines Urlaubes in Seyda bei seiner Schwester verbringt. Herr Pastor Heinecke erzählte in längeren Ausführungen aus seinen Erfahrungen aus dem Leben eines Großstadtpfarrers. Er hängt noch mit großer Liebe an seiner alten Gemeinde Seyda, wie er denn überhaupt viel Sinn für Heimat und Heimatkunde besitzt und gezeigt hat, durch die Gründung des Heimatmuseums in Seyda, das sich zur Zeit in einem Klassenraum der Seydaer Stadtschule befindet. Sein humorvolles Gedicht auf Seyda, das er zum besten gab, und das vom Frauenverein, der gern Heimatlieder singt, sogleich mitgesungen wurde, soll auf mehrfachen Wunsch hier ein Plätzchen finden.

 

Ferientage in Seyda

Melodie: Im schönsten Wiesengrunde

 

Zwei Stunden ab von Zahna

Ist meiner Heimat Haus.

Bis Zahna fährt die Bahne,

Dort steigt man aus.

 

Dich mein stilles Tal,

Grüß ich tausendmal.

Bis Zahna fährt die Bahne,

Dort steigt man aus.

 

Dann wandert man zu Fuße

Zwei Stunden durch den Wald,

Jetzt fährt im Autobusse

Man heim gar bald.

 

Quer durch die Gad´sche Heide

Bringt mich der Postillion,

Da kann das liebe Seyde

Ich sehen schon.

 

Nun geht’s von Bergesrücken

Durch Gadegast im Nu

Vorbei an Wiesenstücken

Auf Seyda zu.

 

Vom Kirchturm winkt die Fahne,

Dort grüßt die Molkerei.

Wie schade, daß die Bahne

Nicht fährt vorbei!

 

Das Auto fährt gar schnelle;

jetzt biegt´s ins Städtchen ein

Bald werde ich zur Stelle

Bei Muttern sein!

 

Schon seh ich meine Lieben

Dort auf dem Marktplatz stehn.

Zu Haus ist keiner blieben.

Die Tücher wehn!

 

Und schöne Blumen schaue

Ich in der Mutter Hand,

S´ sind rote, gelbe, blaue,

Die sie mir band.

 

„Willkommen hier in Seyde!“

So rufen froh sie aus.

Ich fühl aufs neu die Freude:
Ich bin zu Haus!

 

Zur Ferienzeit drum eil ich

Stets nach der Heimat hin,

Nach Seyde eil ich, weil ich

Da heimisch bin.“

 

(HG 7/1931).

 

„Pfarrer Heinecke war der Onkel der Frau Dr. Nekwasil (später eine bekannte Zahnärztin in Seyda, die noch Erwähnung finden wird). Er gründete am 15. September 1912 den „Heimatverein Seyda und Umgegend“ und im Oktober d. J. das Heimatmuseum. Im Januar 1914 siedelte er nach Berlin um und übernahm dort an der Immanuel-Kirche das Pfarramt.

Der Frauenverein hatte sich damals die Aufgabe gestellt, eine Art Nachbarschaftshilfe für Notbedürftige zu leisten. Kranke wurden z. B. zu Hause gepflegt und betreut. Er tat das wohl gut und ausreichend, so daß beispielsweise die Stadtverordneten die „Bildung eines Wohlfahrtsausschusses“ für die Stadt ablehnten, „da der hiesige Frauenverein voll und ganz seine Pflicht tut“. (Seydaer Stadt- und Landbote 10.1.1920) Der Verein hatte eine große Anzahl von Mitgliedern, organisierte viele Veranstaltungen und bereicherte so das kulturelle Leben der Stadt. (Bärbel Schiepel in: HK 6/1995, S. 4).

 

Die politische Lage stellte sich dem Seydaer Pfarrer 1929 sehr düster da. In seinen Ausführungen wird eine Meinung deutlich, die damals allgemein verbreitet war. Die Schuld für die wirtschaftliche und politische Misere Deutschlands wird nicht bei deren Urhebern, sondern bei der seit 1919 bestehenden Demokratie und ihren Vertretern gesehen. Mit Macht versucht man sich gegen das Neue zu stemmen. Aus der Turmkugel, 1929:

„Seit den letzten Aufzeichnungen von 1908 haben sich welterschütternde Ereignisse zugetragen, namentlich entfacht von dem vierjährigen Weltkrieg, der vom 1. Juli (August! T.M.) bis 9. November 1918 wütete. Es war das grösste und blutigste Völkerringen, das je die Erde sah! Deutschland mit seinen drei Verbündeten (Oesterreich, Bulgarien und Türkei) führte gegen 22 Nationen einen Verteidigungskrieg auf Leben und Tod. Unvergleichliche Heldentaten haben unsere deutschen Heere zu Land und zu Wasser vollbracht und standen bis zuletzt durch Waffen unbesiegt einer zwölffachen Uebermacht gegenüber in der Feinde Länder! Annähernd zwei Millionen deutscher Soldaten haben ihr Leben gelassen zum Schutze des bedrohten Vaterlandes; Aus unserer Kirchengemeinde Seyda starben 123 Krieger den Heldentod! Auch die heimatliche Bevölkerung, die alles Edelmetall wie Gold, Silber, Kupfer usw. auf den Altar des Vaterlandes legte, brachte und erduldete die grössten und schwersten Opfer der Entsagung und Entbehrung! Da Deutschland durch die feindlichen Land- und Seemächte von jeglicher Zufuhr von Lebens- und Existenzmitteln abgeschnitten war, stieg die Not unseres Volkes immer mehr. Alle Lebensmittel wurden proportioniert, d.h. jede Person erhielt - unter strenger staatlicher Kontrolle - nur auf sogenannte Lebensmittelkarten ein bestimmtes, kaum ausreichendes Quantum an Brot, Fleisch, Milch, Butter, Kartoffeln, Mehl usw.; auch die Bekleidungsstücke wurden rationalisiert! ...

Die Flamme der Revolution, von staatsfeindlichen Elementen im Geheimen vorbereitet und geschürt, brach plötzlich hervor... Erdrückend waren und sind die Kriegsentschädigungen und Tribute, die die Siegerstaaten, wie sich unsre Feinde jetzt nannten, in unversöhnlichem Haß im Frieden von Versailles unserm Volk aufbürdeten, dass sie in lügenhafter Weise für die Schuld am Ausbruch des Krieges verantwortlich machen... Alljährlich muß Deutschland über 2 Milliarden Goldmark an die Ententeländer abführen... Deutschland, das einst so reich und blühend war, sinkt auf die Stufe völliger Verarmung und Versklavung herab. Am schlimmsten war die Zeit der sogenannten Inflation, der Geldentwertung, die bald nach dem Zusammenbruch einsetzte und im Jahre 1923 ihren Höhepunkt erreicht hatte...

Man rechnete nur noch nach Milliarden und Billionen. Immer neue, immer höher lautende Geldscheine wurden gedruckt... Infolgedessen verarmten die früher Vermögenden fast völlig... Auch unsere hiesige Kirchengemeinde Seyda, die einst über ein grosses Vermögen verfügte, wurde schwer betroffen. Das Gut Mark Zwuschen, das ca. 1.200 Morgen umfasste und als Pfründe zur Oberpfarre gehörte, war im Jahre 1913 (1908! T.M.), also kurz vor dem Krieg, verkauft, und der Erlös von über 100.000 Reichsmark in mündelsicheren Staatspapieren angelegt worden - ist nun dahin! Zwar besitzt die Gemeinde Seyda noch einige Kirchen- und Pfarrländereien, aber die Einnahmen reichen zur Bestreitung der kirchlichen Bedürfnisse und zum Pfarrgehalt bei weitem nicht aus, so dass jetzt Kirchensteuern erhoben werden müssen, z. Zt. betragen dieselben 6% der Staatseinkommenssteuer, sowie 12 bis 20% der Realgrundsteuern und bedeuten eine weitere Belastung für die durch Abgaben aller Art schon bedrückten Gemeindeglieder... Was die evangelische Kirche anbetrifft, so steigert sich ihre Notlage immer mehr... Schon heute herrscht ein außerordentlicher Mangel an jungen Pfarrern. Die Anzahl der Theologiestudierenden ist auf ¼ der Vorkriegszeit zurückgegangen. Viele Pfarrstellen (in der Provinz Sachsen allein über 400) können nicht mehr besetzt werden... Auch die hiesige 2. Pfarrstelle, das sogenannte Diakonat, ist seit 1921 vakant und wird von dem Inhaber der ersten (Ober)pfarrstelle mitverwaltet... Auch sonst trägt die evangelische Kirche das Kleid der Armut und Not. Während des Krieges wurden auf staatliche Anordnung fast überall die Kirchenglocken und Orgelpfeifen beschlagnahmt und abgenommen, um daraus Kriegsmaterial herzustellen, eine Art Sacrilegium, das sich bitter rächte, denn von jener Zeit an wich der Segen Gottes von unserm Volk. Auch unsere Gemeinde Seyda musste von ihren zwei Kirchenglocken eine abliefern, sowie die Orgelpfeifen; bis heute ist es aber der Gemeinde nicht möglich gewesen, dieselben zu erneuern; doch hoffen wir, dass es uns mit Gottes Hilfe durch jährliche Rücklagen und freiwillige Gabensammlungen bald gelingen wird, wieder eine zweite Kirchenglocke anzuschaffen und die Orgel wiederherzustellen. Auch das Innere der Kirche bedarf dringend einer gründlichen Renovation, doch fehlen uns dazu die erforderlichen Mittel...

Was nun das religiöse und kirchliche Leben anbetrifft, so hat dasselbe durch den Krieg mit seinem unglücklichen Ausgang die schwersten Erschütterungen erlitten. Ein fühlbarer Zug der Gottentfremdung und des Unglaubens sowie eine antireligiöse und antikirchliche Bewegung geht durch unser deutsches Volk... Die Jugend soll ohne Religion erzogen werden, die christliche Glaubens- und Sittenlehre soll durch sogenannte Morallehre ersetzt werden.

Hier in Seyda sind bisher keine Kirchenaustritte erfolgt. Selbst die Arbeiter, die sozialistisch und kommunistisch eingestellt sind, halten an der kirchlichen Sitte der Taufe und Konfirmation sowie der kirchlichen Trauung und Bestattung durch den Pfarrer fest; aber den kirchlichen Gottesdiensten, Abendmahlsfeiern und sonstigen kirchlichen Veranstaltungen bleiben sie möglichst fern. Auch haben hier in Seyda die mannigfachen Sekten, die sich überall regen, und unter denen besonders die V.E.B. (Ernste Bibelforscher) (nennen sich erst seit 1931 „Jehovas Zeugen“) und die Weissenberger große Propaganda machen, bis jetzt keinen Fuß fassen können, nur eine kleine Familie bekennt sich zu der letztgenannten Sekte.

Sehr beklagenswert und folgenschwer ist die immer fortschreitende Entsittlichung unsres Volkes, namentlich des größten Teiles unserer deutschen Jugend. Der Sonntag wird immer mehr entheiligt und immer weniger geachtet; der Kirchenbesuch ist im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich zurückgegangen; er umfaßt hier in Seyda an gewöhnlichen Sonntagen durchschnittlich gerechnet ca. 40-50 erwachsene Gemeindeglieder (vorwiegend Frauen), dazu kommen noch ca. 15 Lehrlinge der Landwirtschaftlichen Lehranstalt und einige Konfirmanden. An den Fest- und Feiertagen ist die Kirche gefüllt. Die Zahl der Abendmahlsgäste in Seyda betrug im vergangenen Jahr 1928 insgesamt 525. In den Filialdörfern Mellnitz und Morxdorf ist der Kirchenbesuch reger. Erschreckend ist der allgemeine Geburtenrückgang in unserm Volk, der auf 1/3 der Vorkriegszeit gesunken ist. Gegenwärtig halten sich die Geburts- und Todesfälle fast das Gleichgewicht...  Die Zahl der unehelichen Geburten wächst. Auch werden die Eheschliessungen reiner Brautleute immer seltener. Die Zahl der Geburten in der Stadt Seyda betrug im letzten Jahr 23, die der Todesfälle 22. Auch ist die Zahl der städtischen Einwohner in den letzten Jahren gegenwärtig auf 1.445 Seelen gesunken. Obgleich Seyda durch die täglich mehrmalige Post- und Personenautoverbindung mit Zahna aus seiner Entlegenheit den Verkehrszentren näher gerückt ist, dürfte wohl in absehbarer Zeit kaum mit einem Wachstum und Aufschwung der Stadt zu rechnen sein.

Was noch besonders am Mark unsres Volkes zehrt, ist eine Vergnügungs- und Verschwendungssucht in solchem Ausmaß, wie man es nie im Vergleich zu der früheren schlichten und sparsamen Lebensweise des deutschen Volkes für möglich gehalten hätte. Trotz aller Notlage und der herrschenden Teuerung fröhnt der überwiegende Teil unsres Volkes einer Genußsucht, wie man sie früher noch nicht kannte. Daß diese Zustände der wachsenden Gottentfremdung, des Abfalls vom Glauben und die Entsittlichung unser Volk immer mehr dem Verderben entgegentreiben müssen, muß jeden ernsten und wahren Vaterlandsfreund mit schwerer Besorgnis erfüllen. Wir können nur Gott bitten, daß er sich unsres armen, verblendeten Volkes erbarme und es mit seines heiligen Geistes Kraft zur religiösen Wiedergeburt und zur sittlichen Erneuerung erwecke.

Wir wollen auch angesichts aller schwerer Bedrängnisse und Zustände unserer Evangelischen Kirche nicht verzweifeln, sondern mit dem Psalm 46 bekennen und rühmen: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Auch wollen wir festhalten an der Verheißung des Herrn unserer Kirche Jesu Christi, daß die Pforten der Hölle seine Gemeinde nicht überwältigen sollen, wenn dieselbe nur festgegründet bleibt in dem Glauben an ihn, den hochgelobten Sohn Gottes (Mt 16,18).

Ganz besonders sei unsere evangelische Kirchengemeinde und Stadt Seyda der Gnade, dem Schutz und Segen Gottes befohlen. Geschrieben und unterzeichnet

Seyda, den 24. Mai 1929

Pfarrer Dr. phil. Theodor Graf (seit dem 1. September 1926 in die hiesige Pfarrstelle berufen).“

 

Unter diesen Voraussetzungen kann man sich vorstellen, wie 1933 ein „Führer“ bejubelt wurde, der eine umfassende Erneuerung versprach...

 

Die „Heimatgrüße“ spiegeln das Empfinden der Zeit wider. So können wir 1933 aus der Feder von Pastor Voigt lesen:

„Vor 12 Jahren, in der April-Nummer der Heimatgrüße von 1922, hatten wir ein Gedicht von Pastor Bahr, ein Stoßgebet aus dem Herzen des Volkes, an die Spitze gestellt, das um seiner unglaublich buchstäblichen Erfüllung und Erhörung willen hier noch einmal abgedruckt sein mag. Es ist überschrieben:


Ein Mann!

 

Ein Mann tut uns not mit stahlharter Stirn,

Ein Mann, mit flammender, zündender Rede,

Ein Mann, der Welten trägt im Gehirn,

Ein Mann, der siegreich besteht jede Fehde;

 

Ein Mann, der die Liebe zum Vaterland,

Die Ehre aufpeitscht mit gewaltigen Hieben,

Ein Mann, der ins Herz wirft den Feuerbrand,

Daß Feigheit und Selbstsucht in Funken zerstieben;

 

Ein Mann wie Luther, ein Riesenheld,

Ein   F ü h r e r   in Nacht und Sturm und Wetter,

Ein Mann, den segnet die deutsche Welt,

Du, Herrgott im Himmel, o send uns den Retter!“

 

Kein Mensch wußte damals: „wie mag das zugehen?“ oder: „wer mag das sein?“ - Der Mann, der Führer selbst kannte seine Bestimmung noch nicht. Aber Gott hatte Sein Werkzeug, den Retter Deutschlands, schon bereit: Adolf Hitler; und 12 Jahre später, als die Not aufs höchste gestiegen war, da hat Er ihn uns gegeben. Wer nun noch zweifelt, daß Gott Gebete erhört, wer nun noch bestreitet, daß Gott auch heute noch Wunder tut, dem ist nicht zu helfen, der will eben nicht sehen...“

 

Es gehört zu den dunkelsten Kapiteln unseres Volkes und auch unserer Kirche, dass viele diesem Ver-Führer gefolgt sind, der so vielfaches Leid nicht nur über unser Land, sondern über die Völker Europas gebracht hat. In einer Geschichte der Kirche von Seyda soll das nicht verschwiegen werden. Die Katastrophe, die darauf folgte, war noch größer als die erste, und ihre Folgen zeigen sich noch heute, über ein halbes Jahrhundert später.

 

So, wie es sich der Pastor Voigt wünschte, dass auch die Kirche durch diesen Führer neu geordnet würde, trat es nicht ein. Denn es gab mutige Leute in der Kirche, die das verhindert haben. Sie gründeten die „Bekennende Kirche“ und installierten neben der verordneten Kirchenleitung eine „provisorische“, die sich nicht wie alle anderen Organisationen „gleichschalten“ ließ. Auch der Pastor Mücksch, der 1932 ins Amt in Seyda kam, aber schon bald wieder wegging, gehörte zu dieser „Bekennenden Kirche“. Pastor Hagendorf, seit 1936 in Seyda, soll erst auch ein Anhänger der neuen „Bewegung“ gewesen sein, wurde dann aber doch noch wegen kritischer Äußerungen inhaftiert. Davon wird noch die Rede sein.

 

Im Jahr 1933 jedenfalls war es schwierig und für viele wohl fast unmöglich, die Absichten des Adolf Hitler zu durchschauen. Er traf mit seinen Reden genau diesen Ton: Deutschland sollte wieder aus seiner „Schmach“ geführt werden, mit dem „Parteiengezänk“ sollte Schluß sein, „Brot und Arbeit“ sollte es geben, „Deutschland“ sollte wieder etwas gelten. Von Anfang an aber setzte er seine Ziele mit unmenschlichen Mitteln und brutaler Gewalt durch.

 

Die Hoffnung, dass der „Nationalsozialismus“ eine Verbesserung der Lage des Landes und auch ganz persönlich bringen würde, ergriff viele. Das kam auch in Seyda bei verschiedenen Feierlichkeiten zum Ausdruck. Im August 1933 konnte endlich die zweite Glocke wieder ersetzt werden, die im Weltkrieg abgegeben worden war. Das schien wie ein Zeichen einer neuen, besseren Zeit zu sein. Auf der Glocke war zu lesen:

 

„1917 O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort 1933

Wach auf, Wach auf, du deutsches Land

du hast genug geschlafen

Bedenk, was Gott an dich gewandt,

wozu er dich geschaffen

Bedenk, was Gott dir hat gesandt

und dir vertraut sein höchstes Pfand,

drum magst du wohl aufwachen!“

 

Die Glocke wurde auf einem mit Blumen geschmückten Wagen durch die Stadt gefahren und dann - alle Schulkinder mußten anfassen - an einem Strick den Turm hinaufgezogen. Die „Heimatgrüße“ berichteten:

„Seyda, 22. August. Das diesjährige Kinderfest erhielt in diesem Jahre dadurch eine ganz besondere Note, daß es seinen Anfang mit der Einholung unserer neuen zweiten Glocke nahm. Der Rollwagen mit der festlich geschmückten Glocke nahm in der Triftstraße Aufstellung. Dort versammelten sich die kirchlichen Körperschaften und die SA. Die Glocke selbst wurde geleitet von jungen Mädchen des Jugendbundes. Auf dem Marktplatz erwartete eine große Menge den Wagen mit der Glocke, der dann am Denkmal (Kaiser Wilhelms am Eingang der Bergstraße zum Markt) hielt. Die Kapelle intonierte zu Beginn das Lied „Lobe den Herrn“. Die Menge sang gemeinsam die ersten 3 Strophen dieses Liedes. Schulkinder, Knaben und Mädchen in bunter Reihe, trugen Stellen aus Schillers unsterblichem „Lied von der Glocke“ vor. Pfarrer Mücksch ergriff dann das Wort, indem er etwa folgendes ausführte: „Freude dieser Stadt bedeute, Friede sei ihr erst Geläute!“ Das sind die gewaltigen Grundtöne, die sich heute zu einem vollen Zusammenklang vereinen und immer weiter klingen sollen: Freude und Friede. Unter dem Zeichen der Freude steht heute unsere Stadt...

Der eherne Mund der Glocke will unser Volk aufrütteln mit dem Mahnen zum Worte Gottes. Die Glocke will unser Leben begleiten. Wenn wir unsere Kinder zur Taufe tragen, wenn zwei Menschen ihre Hände zu gemeinsamem Lebensweg ineinander legen, sie wird ihre Sprache vom Gotteswort und von seinem ewigen Ernst sprechen. Sie will unsere Gemeinde am Sonntag zur heiligen Feierstunde rufen. Und sie wird auch einmal über dem offenen Grabe ihre Stimme erheben, das auf Deinen letzten Gang wartet. Wenn die Glocke läutet, so wollen wir bedenken, was uns anvertraut ist. Ein Unterpfand zur Freude und zum Frieden. Darum: „Wach auf, wach auf du deutsches Land, du hast genug geschlafen!“

Anschließend an die Rede von Pfarrer Mücksch formierte sich der Zug der Kinder zum Schulfest im Schützenhause. Dort auf dem Platze, bei herrlichstem Sonnenschein, hielt Hauptlehrer Brantin eine Ansprache an die Jugend, die von hohem vaterländischen und deutschen Geist erfüllt war. Er forderte die Kinder auf, an dem großen Ziel unseres unvergleichlichen Führers Adolf Hitler mitzuarbeiten, um Deutschland wieder zur Einheit und Größe zu führen. Auch an die Alten, denen vielleicht noch die vergangenen 14 Jahre zu sehr in den Gliedern steckten, richtete er die Mahnung und Aufforderung, nach besten Kräften am Aufbau unseres lieben deutschen Vaterlandes mitzuhelfen. Seine Rede klang aus in dem gemeinsamen Gesang des Deutschlandliedes und des Horst Wesselliedes...“ (HG 9/1933).

Eine feierliche Glockenweihe fand im September statt. Generalsuperintendent Lohmann, der als „Bischof“ fungierte, hielt die Festpredigt: an einem Tag zunächst bei der Glockenweihe in Gadegast, dann in Seyda.

Der Glockenschlag strukturierte weiter das Leben: den Schulbeginn, die Mittagszeit, das Abendläuten, der Wochenschluß, die fröhlichen und traurigen Anlässe des Lebens. Aber auch das Tönen der Sirene an der Schneidemühle (Glücksburger Straße 1) gehört nun zum Alltag in Seyda.

 

Hitler festigte seine Macht. Im August 1934 starb der alte Reichspräsident Hindenburg, wohl einer von denen, die noch die Macht gehabt hätten, den Nationalsozialismus zu stoppen. Noch am gleichen Tage leisteten Offiziere und Mannschaften der deutschen Wehrmacht ihren Treueeid auf Hitler. „Die Armee wurde aufgerufen, nicht auf die Verfassung oder das Vaterland, sondern auf Hitler persönlich zu schwören: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“... Die nationalsozialistische Revolution war vollendet: Hitler war Diktator von Deutschland geworden.“ (Alan Bullock: Hitler, S. 291).

 

Im Rausch des Aufbruchs wurden wohl die „Nebenerscheinungen“ verdrängt: Das Verschwinden „unliebsamer“ Personen, das Verbot von Büchern, die wachsende Diskriminierung der Juden, die Planung des Krieges.

 

In der Evangelischen Kirche gab es einen regelrechten „Kirchenkampf“ zwischen Anhängern der „Deutschen Christen“, die Hitler folgten (und zum Beispiel das „jüdische“ Alte Testament zurücksetzten) und der „Bekennenden Kirche“, die sich gegen eine Vereinnahmung und „Gleichschaltung“ der Kirche durch Hitler zur Wehr setzte.  Ein Dokument davon steht heute noch in unserem Evangelischen Gesangbuch, die „Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen“ vom 29. bis 31. Mai 1934. Darin heißt es zum Beispiel: „4. ... Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen. 5. ... Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 810).

In Berlin-Dahlem war Martin Niemöller Pastor. In seiner Gemeinde wurde in dieser bedrängten Zeit begonnen, das alte Glaubensbekenntnis („Ich glaube an Gott, den Vater...“) laut durch die Gemeinde mitzusprechen. Bis dahin hatte es der Pfarrer in jedem Gottesdienst allein gesagt. Das ist heute allgemein, auch in Seyda üblich. (Vgl: Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer.).

In dieser Zeit wurden auch die „Bibelwochen“ eingeführt, auch sie gehören heute zur Tradition, im ganzen Land und in Seyda und den umliegenden Ortschaften. Man fragte in der Kirche neu nach dem, was uns trägt und hält.

 

Etwa die Hälfte der evangelischen Pfarrerschaft in Deutschland blieb indifferent gegenüber „DC“ und „BK“, in der Bekennenden Kirche waren etwa 2.000 Pfarrer, Mitglieder bei den Deutschen Christen etwa 5.000. (Für die Kirchenprovinz Sachsen: „Bereits Ende 1937 hatte eine Erhebung ergeben, daß von 990 amtierenden Pfarrern 319 zur Bekennenden Kirche rechneten, 524 als neutral und gruppenungebunden anzusehen waren und 147 zu den Deutschen Christen gehörten. Von den etwa 2.000 Kirchgemeinden der Kirchenprovinz hatten sich insgesamt 46 Gemeinden offiziell der Bekennenden Kirche angeschlossen. Von den zwei Millionen Kirchengliedern hatten 16.217 die Mitgliederverpflichtung unterschrieben.“ (Meier: Der evangelische Kirchenkampf III, S. 319). In den „Heimatgrüßen“ beispielsweise, dem Evangelischen Monatsblatt unserer Orte, wurde offen Werbung für die „Deutschen Christen“ gemacht. Man sah hier die Möglichkeit, die gesamte „Volksgemeinschaft“ wieder zurück zur Kirche zu führen. „Echte deutsche Menschen feiern hier Gottesdienst unter dem Bilde des Heilandes und durch ihn in ihrem Wesen geläutert... Kirche und deutsches Volk müssen eine Einheit bilden. Deutsche Menschen werden im Gottesdienst in ihrem Wesen geadelt. Das deutsche Volk braucht die Kirche und den christlichen Gottesdienst, weil überall die Macht der Unterwelt des Satans in Lüge und Gier auf die Seele des Menschen ihre Machtansprüche geltend macht und darum die erlösende Kraft des Heilandes so nötig ist. Das deutsche Volk braucht den Gottesdienst, sonst geht es in Sünde und Elend zugrunde.“ (Pastor Ostermann in den HG 1/1936, S. 360.).

Walter Mücksch, Pfarrer in Seyda, war im „erweiterten Bruderrat“ der Bekennenden Kirche, zusammen mit Pfarrer Martin Jentzsch (der in Seyda als Sohn des zweiten Geistlichen geboren wurde und das Lied Nr. 418 in unserem Gesangbuch gedichtet hat). (Meier: Der evangelische Kirchenkampf III, Anm. 873, S. 658).

Im Jahr 1935 fand der Eintritt des Frauenvereins in die „Evangelische Frauenhilfe“ statt. Das war eine Schutzfunktion, um nicht von den Nationalsozialisten und ihren Organisationen vereinnahmt zu werden.

Alle Pfarrer hatten 1938 einen „Treueeid auf Hitler“ abzugeben! Auf Initiative nicht des NS-Staates, sondern der „DC“, wurde allgemein angenommen, weil man damit den Vorwurf der Staatsfeindschaft und der politischen Unzuverlässigkeit abwehren wollte. Zum Kaiser als der „Obrigkeit“ zu stehen war ja auch selbstverständlich gewesen. Die „Wertung des Pfarrerstandes in der Öffentlichkeit litte darunter, daß die Pfarrer als einzige als Träger eines öffentlichen Amtes in unsrem Volke nicht auf den Führer vereidigt seien“ sagte ein Kirchenvertreter. (Meier: Der evangelische Kirchenkampf III, S. 44f).

 

Dennoch merkte Hitler bald, dass es ihm nicht gelang, die Kirchen ganz in seinen Staat einzugliedern. Er zeigte deutlich, dass er den christlichen Glauben scharf ablehnte. „In Hitlers Augen war das Christentum eine Sklavenreligion; insbesondere verachtete er seine Ethik. Er erklärte, die Lehre des Christentums sei eine Auflehnung gegen das Naturgesetz, das die Auswahl durch Kampf und Überleben der Besten vorsehe.“ (Alan Bullock: Hitler, S. 371). Das hatte zur Folge, dass sich Nationalsozialisten auch in Seyda von der Kirche distanzieren mußten. Es gab die ersten Trauungen, die nur auf dem Standesamt durchgeführt wurden, sowie auch erste Kirchenaustritte.

Der Religionsunterricht wurde mit nationalsozialistischen Inhalten gefüllt (weshalb manche Gemeinden die „Christenlehre“ im Kirchenraum einführten, die es später auch in Seyda gab). 1932 fand das letzte Krippenspiel in der Schule statt, unter Leiter von Kantor und Lehrer Schmalz. Die Maria war Martha Hähner, später viele Jahrzehnte Kirchenälteste in Seyda.

 

Im Krieg wird Hitler noch deutlicher: „Das Übel, das uns am Lebensmark frißt“, bemerkte er im Februar 1942, „sind die Geistlichen beider Konfessionen. Im Augenblick kann ich ihnen nicht die Antwort geben, die sie verdient haben... Aber es ist alles notiert. Die Zeit wird kommen, in der ich mit ihnen abrechnen werde. Sie werden bestimmt noch von mir hören, und dann lasse ich mich nicht von Paragraphen aufhalten.“ (Hitler´s Table Talk 1941-1944. Übers. von Norman Cameron und R.H.Stevens, London 1953, S. 304 In: Allan Bullock: Hitler, S. 371).

 

In Seyda also war die Begeisterung wie fast überall im Land zunächst allgemein; an manchem Hausneubau wurde im Giebel ein Hakenkreuz angebracht. Die Hakenkreuzfahnen kamen bis in die Kirche.

 

Im September 1933 wird der Beschluß gefaßt, Maurer- und Zimmererarbeiten am Kirchturm vorzunehmen. Das Uhrziffernblatt wird neu angestrichen: Es ist damals noch schwarz auf weißem Grund, so dass man es auch vom Feld aus größerer Entfernung sehen kann.

1934 finden im Pfarrhaus Renovierungsarbeiten statt, der im Mai ordinierte Pastor Heinrich Ostermann kommt nach Seyda. Unter seiner Leitung beginnt 1935 endlich die lang ersehnte Kirchenrenovierung! Das Kirchenblatt berichtet: „Am 26. August ist mit den Erneuerungsarbeiten in unserer Kirche begonnen worden. Zuerst mußte die Orgel auseinandergenommen und die einzelnen Teile sicher verpackt werden, um sie so vor Staub und Schmutz zu bewahren. Wie nötig diese Arbeit war, sah man wenige Tage später, als die Handwerker mächtige Gerüste im Kircheninnern aufgerichtet hatten und nun die ganze morsche Decke abrissen. Da war die Kirche bald von dichten Staubwolken erfüllt, und sie glich einem Trümmerfeld. Nach diesem Zerstörungswerk setzte sogleich eine lebhafte Aufbautätigkeit ein. Oben auf den Gerüsten ist jetzt ein Pochen und Hämmern den ganzen Tag. Eine neue Decke wird hergestellt, der Fußboden wird erneuert, eine Heizungsanlage und elektrische Beleuchtung kommen in die Kirche. Wände und Gestühl erhalten neuen Anstrich und der schöne Barockaltar wird sachverständig aufgefrischt.

Die Gottesdienste finden während der Kirchenerneuerung im Heim der Hitlerjugend in der Schule statt. Dort stehen - nebenbei bemerkt - keine Schulbänke, wie mancher irrtümlich geglaubt hat, sondern große und breite Bänke für Erwachsene: dieselben, die bisher im Gemeinderaum im Pfarrhause gestanden haben.

Doch wir wollen uns darauf besinnen, daß bei unsern Gottesdiensten nicht der Raum die Hauptsache ist, sondern vielmehr die gemeinsame Anbetung Gottes durch treue Gemeindemitglieder, die sich regelmäßig durch das Wort Gottes Kraft für die Seele holen wollen. Gott schenke uns Seydaern solche gesegneten Gottesdienste.“ (HG 9/1936).

 

Im Dezember bereits waren die Arbeiten beendet:
„Die Kirchengemeinde Seyda hat dieses Jahr ein ganz besonders schönes und großes Weihnachtsgeschenk bekommen, die erneuerte Kirche. Am 4. Adventssonntag erlebten wir die feierliche Wiedereinführung des schönen, schmucken Gotteshauses. Den Weiheakt vollzog Herr Pfarrer Ohlert-Schweinitz, der als Superintendenturvertreter die Glückwünsche der Kirchenbehörde überbrachte. Auch Herr Pfarrer Voigt-Gadegast richtete herzliche Grußworte an die zahlreich versammelten Gemeindeglieder. An die Einweihung schloß sich der erste Gottesdienst an, in dem der Ortspfarrer Ostermann über das Schriftwort des 4. Advent aus dem Philipperbrief sprach: „Freuet euch in dem Herrn allewege...“ Ein Grund größter Freude ist es für die Gemeinde Seyda, daß sie nun wieder im erneuerten und geheizten Gotteshause zusammenkommen kann, um hier gemeinsam Gott anzubeten und Gottes Wort zu hören. Der Ortspfarrer wies besonders auf die Sprüche und Symbole (Sinnbilder) an den Emporen hin, die alle die Grundtatsachen unseres evangelischen Glaubens aussprechen und darstellen. Bibel, Kelch, Kreuz, Luther- und Melanchthonwappen, an der Orgelempore 2 Posaunen mit dem Wort: Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! Die angebrachten Bibelsprüche sollen ein Christenherz stärken, aufrichten, erheben und - vor Gott demütigen. Wenn die Gemeinde in einer wahren christlichen Glaubensgemeinschaft ihre Gottesdienste hier feiert, kann sie Gottes Segen erhoffen.

Am Nachmittage des Einweihungstages feierten wir das Heilige Abendmahl, zu dem sich wieder eine große Gemeinde versammelt hatte. Und dann kam Weihnachten, das diesmal so besonders innig und froh gefeiert wurde, da wir unsere schöne, helle, warme Kirche haben.

Im Pfarrbezirk Seyda waren im Jahre 1935: 45 Taufen; 20 Trauungen; 26 Bestattungen.“ (HG 1/1936).

 

Ja, auch eine warme Kirche hatten die Seydaer nun: Die Heizungsanlage wurde eingebaut, auch die Konfirmanden hatten beim Heizen mitzuhelfen. 5 Zentner Kohle (250 kg) wurden für ein Wochenende gebraucht. Herr Kirchendiener Schulze fing am Sonnabend um 17 Uhr nach dem Läuten mit dem Heizen an und schob die ganze Nacht nach. 1941, als die Kohlen rationiert worden sind, hörte auch das Heizen der Kirche auf. Es wird berichtet, dass es vorn am Altar sehr warm wurde (dort sind die Luftschächte) und der Pfarrer sich den Schweiß von der Stirn wischen mußte, während in anderen Bankreihen kaum Wärme zu spüren war, da die warme Luft nach oben zog.

Die elektrische Beleuchtung kam nun vollständig in die Kirche, der Deckenputz wurde erneuert (bis dahin schmückte ein „Sternenhimmel“ die Kirche), der Fußboden und die Wände wurden ausgebessert, die gesamte Kirche erfuhr einen Innenanstrich.

Diesen führte Meister Richard Mechel sen. aus, der lange auf dem Amtshof wohnte. An der Rückseite des Kreuzes kann man es lesen: „R. Mechel, Maler, 1935.“

Die Gesamtkosten beliefen sich auf 11.200 Reichsmark, davon wurden 6.000 RM als Kredit aufgenommen mit einer jährlichen Tilgungsrate von 500 RM; 3.000 RM Patronatsgeld (Staatsleistung), 2.200 RM eigenes Vermögen. Ein „Nachspiel“ hatten die Arbeiten noch: wegen Bevorteilung von Baubetrieben durch den Kirchenrat und mangelhafte Ausführung der Arbeiten kam es zum Prozeß (SSLB 23.7.1936).

 

Die Sprüche an der Empore der Kirche sollen noch einmal erwähnt werden. Da ist auf der rechten Seite Paulus zitiert: „Sooft Ihr von diesem Brot eßt und aus diesem Kelch trinkt, verkündet Ihr des Herrn Tod, bis er kommt.“ (1 Kor 11,26). Darin enthalten ist der Verweis auf die Feier des Abendmahles und die unerschütterliche Hoffnung: Jesus wird wiederkommen. Daneben steht das erste Gebot, was eine Orientierungshilfe und ein Rettungsanker sein will: „Ich bin der Herr, Dein Gott! Du sollst keine andern Götter haben.“ (2 Mose 20,1f). Dann ist Paulus zitiert mit dem Wort vom Kreuz: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden, uns aber ist´s eine Gotteskraft.“ (1 Kor 1,18). Unter der Orgel, wo auch der Chor Platz hat, steht das Wort aus dem Psalter: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“ (Ps 98,1). „Wachet und betet!“, die Aufforderung Jesu an seine Jünger kurz vor seiner Gefangennahme, ihm beizustehen, ist auf der linken Emporenseite angeschrieben (Mt 26,41: „Wachet und betet, dass Ihr nicht in Anfechtung fallt!“). „Stehet im Glauben!“ ist ein Wort des Apostels Paulus (1 Kor 16,13f): „Wachet, stehet im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle Eure Dinge laßt in der Liebe geschehen!“.

Ganz vorn sind dann die Wappen von Luther (die Lutherrose mit dem, was ihm wichtig war, im Mittelpunkt: Die Liebe Gottes in Jesus Christus) und Melanchthon zu sehen (wie die Israeliten auf die eherne Schlange schauen sollten, so sollen wir auf Christus schauen, um gerettet zu werden; 4 Mose 21,8), dazu die Liedverse Luthers: „Eine feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 362).

An den Rückwänden der Kirche, rechts und links vom Ausgang, stand bis zur Kirchenrenovierung 1995 geschrieben: „Herr, ich habe lieb die Stätte Deines Hauses und den Ort, da Deine Ehre wohnt!“ (Ps 26,8; links), und „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.“ (1 Kor 3,11).

Im Eingangsbereich steht noch heute die Mahnung des Propheten Jeremia: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort!“ (Jer 22,29); darunter die griechischen Buchstaben für „CH“ und „R“ (Christus) und der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabeths: Alpha und Omega: Jesus Christus ist der Anfang und das Ende von allem.

 

Mit der neugemalten Kirche hoffte man nun auch auf eine Erneuerung des Glaubensmutes in der Masse der Bevölkerung. Pastor Ostermann schreibt in den Heimatgrüßen: „Das  Sprichwort ,Leere Kirche - volle Gefängnisse´ birgt eine tiefe Wahrheit, denn man hat die Beobachtung gemacht, daß eine Gemeinde, die leere Kirchen hat, dafür umsomehr die Gefängnisse bevölkert. Aber in kirchlichen Gemeinden mit vollen Gottesdiensten ist das Gemeindeleben gesegnet: Es gibt mehr Elternachtung, mehr wohlgeratene Kinder, mehr friedfertige Ehen, mehr hilfreiche Nachbarn, mehr Herzensbildung und treue fromme Menschen...“ (HG 1/1936, S. 360. Pastor Ostermann ging 1936 nach Belgern, 1945 fiel er als Sanitätssoldat in der Eifel, er hinterließ eine Frau mit vier Kindern.)

 

Ganz nebenbei, in einem unteren Absatz, kann man in den „Heimatgrüßen“ im Zusammenhang mit einer Volkszählung in Deutschland lesen: „Nicht unbeträchtlich hat sich die Zahl der Israeliten vermindert (um 11,5%).“ (HG 9/1935, S. 342).

Es ist Zeit, nach dem jüdischen Leben in Seyda zu fragen! Schon immer hatte man ja, zum Beispiel zu Weihnachten, von Christus als „Davids Sohn“ gesungen; schon immer wurde aus dem Alten Testament gelesen und gelehrt, der Mose steht oben an unserem Altar; und auf dem alten Ölbild von Superintendent Hilliger kann man hebräische Schriftzeichen entdecken: Er verstand die Sprache der Juden.

Bis heute rätselhaft ist die Herkunft des Davidssterns über der Kirchtür. Ein Tischlermeister hat festgestellt, dass er aufgrund der schon mechanischen Bearbeitung nicht älter als 120 Jahre sein kann.

Im Jahre 1910 wird in einer Erhebung für Seyda „1 Jude“ registriert. Alte Leute berichten von jüdischen fliegenden Händlern, die früher oft durch Seyda kamen. In unserer Gegend, auf dem Lande, konnten sich Juden früher kaum ansiedeln. Durch die Vorschriften der christlichen Zünfte hatten sie keine Möglichkeit, mit einem Handwerk Fuß zu fassen, das Bodenrecht verwehrte ihnen die Landwirtschaft.

Eine Frau, Rosalie Israel, ist am 18.11.1865 in Schadewalde geboren worden, eine Jüdin, die später in Düsseldorf heiratete und bis an ihr Lebensende den Sabbat gehalten und gefeiert hat.

Die Schwiegermutter eines Seyd´schen, nach dem damaligen verbrecherischen Sprachgebrauch „Halbjüdin“ genannt, wurde vom Pastor 1943 in Seyda beerdigt. Ein Geschäftsmann will einen Juden in seinem Wagen aus Seyda hinausgeschmuggelt haben. - Das sind die wenigen Nachrichten, die etwas über Juden in Seyda vor 1945 sagen. In Jessen gab es einen jüdischen Anwalt, der bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Gefahr erkannte und 1934 seine Familie in die Schweiz brachte, selbst aber nicht mehr rechtzeitig das Land verlassen konnte und Selbstmord beging. Ein Todesmarsch aus dem KZ Lichtenburg ging in den letzten Kriegstagen durch das Stadtgebiet. Mit ihm kam Dr. Weidauer, ein jüdischer Arzt, nach Seyda. Von ihm soll noch im nächsten Band berichtet werden.

 

Pastor Hagendorf, 1936 als Vikar nach Seyda gekommen, war es, der sich schützend vor den Davidsstern in der Kirche stellte. Die Nazis wollten ihn herausschlagen. Der Pastor wehrte sich dagegen mit den Worten: „Der Stern ist schon viel länger dort oben als Ihr da seid!“ So blieb er erhalten. (Erinnerung eines Konfirmanden).

 

Im 20. Jahrhundert haben die Machthaber oft gewechselt, und so ist es in manchen Orten nötig gewesen, die Straßennamen regelmäßig zu ändern. In Seyda war das nicht der Fall, die alten Bezeichnungen sind im wesentlichen geblieben, nur zwei Fälle sind bekannt: die Kirchstraße wurde zur „Schulstraße“. Die Schule steht nun nicht mehr dort, wohl aber ist die Kirche an ihrer Stelle geblieben.

Die Bewohner der „Kuhgasse“, die so benannt war, weil die Kühe dort ihren Weg auf die Weiden gingen, verlangten nach der Änderung des Namens. Sie wurde in „Triftstraße“ umbenannt. Die „Trift“ bezeichnet den „Weideabtrieb“, was dem alten Straßennamen nahe kommt. Als man dann nach einer Straße suchte, die man „Adolf-Hitler-Straße“ nennen könnte, schlug man der Behörde in Schweinitz diese Straße vor. Der Antrag soll abgelehnt worden sein: Man könnte doch nicht die ehemalige „Kuhgasse“ mit diesem Namen schmücken.

 

Neben den politischen Ereignissen gab es natürlich das ganz normale Leben:

Im Juni 1936 wurde das erste Mal die „Goldene Konfirmation“ in Seyda begangen: also die Feier zum 50. Jahrestag der Konfirmation. Das ist bis heute ein wichtiges Fest, an dem auch viele aus der Ferne kommen, um die Heimat wiederzusehen. Der größte Teil des Lebenswerkes ist vollbracht, man schaut gemeinsam zurück und fragt auch nach seinen Wurzeln und nach dem, was bleibt.

Pastor Hagendorf schrieb noch im hohen Alter, 1993, „seinen“ Konfirmanden ein Grußwort zur Goldenen Konfirmation: „,Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter ihnen.´ (1 Kor 13,13). Ich habe mich immer bemüht, den Konfirmanden das doppelte Liebesgebot Jesu: Gottesliebe und Nächstenliebe und vor allem mit der Bibel, dem Gesangbuch und dem Katechismus zu aktualisieren. Und wenn es geschenkt wurde, daß dieses Gebot konkretisiert wurde, war das Ziel erreicht.

Vergessen Sie bitte nicht, bei der Feierstunde des vortrefflichen Kantors und Organisten Karl Schmalz zu gedenken. Sie, die Goldenen Konfirmanden und die ganze Gemeinde einschließlich der Dörfer grüßen wir sehr herzlich und wünschen eine recht schöne Feier mit vielen guten Erinnerungen. Ihr Hagendorf.“ (Fredeburg, am 8.9.1993).

 

Im November 1936 wurde die Eiserne Hochzeit des Tischlermeisters Freiwald gefeiert, natürlich in der Kirche: Ein damals - und auch heute noch - sehr seltenes Fest! (vgl. HG 11/1936).

 

1937 wurde das Pfarrhaus umfassend saniert: mit Wasserleitung, Tischler-, Installations-, Elektro-, Maler- und Maurerarbeiten; auch ein Fliesenleger und ein „Töpfer“ waren da (Töpfer wurden in Seyda die Ofensetzer genannt) sowie die Telefontechniker.

1938 ist ein gebrauchtes Klavier für den (bis dahin einzigen vorderen) Gemeinderaum angeschafft worden, dort fand auch der Konfirmandenunterricht statt.

 

Am 7. Juli 1939 wurde der Vertrag in der „Küster-Schul-Auseinandersetzung“ unterzeichnet: Eine Folge der Trennung von Staat und Kirche nach 1918. Die Schulangelegenheiten, für die bisher beide zuständig waren, waren nun ganz Sache des Staates; das Vermögen wurde aufgeteilt.

 

Am 1. April 1940 wurde die Uhren erstmals auf „Sommerzeit“ eine Stunde vorgestellt, um das Tageslicht besser auszunutzen.

 

Ein Brief des berühmten Musikdirektors Schulze, der Generationen von Seydaer Bläsern ausgebildet hat, und dem die „Seydaer Blasmusikanten“ in ihrem Kern auch heute noch ihr Können verdanken, sei hier abgedruckt, hat doch dieser Musikdirektor unseren Taufstein in der Kirche „gerettet“, wie man lesen kann:

 

„Seyda, den 11. März 1941

An den wohllöblich Gemeinde Kirchenrat der Stadt Seyda, Betr. die Zuschrift vom 12ten Februar...

...Hiermit gestatte ich mir noch mitzuteilen: Der jetzige Taufstein in hiesiger Kirche, war über 20 Jahre mein Eigentum, diesen hatte ich bei einer Auktion, wo Abrauch von alten Brettern und andere alten Gegenstände von der Kirche aus verkauft wurden, wurde der alte Taufstein mitverkauft, da in der Kirche schon ein Neuer gesetzt war, der alte Taufstein wurde von mir erworben, der Stein wurde in meinen kleinen Hausgarten aufgestellt, wurde gehegt und mit Blumen umrahmt; nach diesen vorerwähnten Jahren wurde ich vom Kirchenrat resp. („respektum ago“ = „eingehend betrachtet“, „genauer gesagt“) Pfarramt ersucht, doch den Taufstein an hiesige Kirche zurückgeben zu wollen, da doch dieser altertümliche Taufstein einen hohen Wert für die Kirche hatte, für mich hatte aber dieser auch einen hohen Wert, da doch meine Vorahnen seit 300 Jahren, bis zu meines Vaters Familie daran getauft worden sind, habe aber dennoch den Stein der Kirche zurück gegeben und geschenkt, am Fuße dieses Steines steht mein Name, daß dieser von mir geschenkt worden ist. Da ich gegen die Kirche so human war und den Taufstein schenkend zurück gab, möchte ich bitten, die Gebühr von 30,00 RM für die vorn erwähnte Grabstelle mir zu erlassen...“

 

Die kleine Waldbahn Seyda-Linda, von deren Bau bereits berichtet wurde, verschwindet wegen der Anlage des Fliegerübungsplatzes Glücksburg. Nun konnte man fast täglich Militärflugzeuge über der Heide sehen, die das Bombenwerfen übten. Über Jahrzehnte war die Heide in weiten Teilen unzugänglich und einer großen Zerstörung durch Kriegsgerät ausgesetzt. Die Militarisierung der Gesellschaft nahm immer mehr zu (schon im Ersten Weltkrieg führte der Lehrer Wehrertüchtigung mit den Schülern durch, vgl. die Schulchronik). Deutsche Truppen marschierten in Österreich ein, dann in die Tschechei. Der allgemeine Jubel war groß.

 

Der „Reichsarbeitsdienst“ („RAD“) wurde am 26. Juni 1935 deutschlandweit ins Leben gerufen. Im Frühling 1939 baute er den Militärflugplatz in Mark Zwuschen. Zuerst wurde freilich erklärt, er diene zivilen Zwecken; genauso, wie Mädchen aus Österreich und der Slowakei in unsere Gegend angeworben worden sind, um in einer „Schokoladenfabrik“ zu arbeiten: sie fuhren dann aber zur Munitionsherstellung nach Treuenbrietzen. Einige sind in Seyda geblieben, bis heute.

Das Jahr 1939 brachte eine Rekordernte. Über Nacht aber wurde der „RAD“ abgezogen und in Güterwagen „nach Osten“ gefahren, ohne Bekanntgabe eines konkreten Zieles. Das war am  27. August 1939.

Am 1. September begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlands auf Polen. Durch die Radiolautsprecher auch in Seyda klang das freilich ganz anders: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen...“

Der Krieg hatte begonnen, der unermessliches Leid über die Völker und auch über unser Volk gebracht hat. Wieder mußten Väter, Männer, Söhne in den Krieg ziehen. Doch das war erst der Anfang des Schreckens.

 

Pfarrer Hagendorf wurde plötzlich, zu Palmarum 1940, eingezogen. Die übliche Konfirmandenprüfung in der Kirche, die eine Woche vorher wie immer stattfinden sollte, wurde gestrichen, und dafür gleich Konfirmation gefeiert. Der Pfarrer schrieb noch vorher in das Poesiealbum einer Schülerin:

 „,Jesus Christus gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit.´ (Heb 13,8).

Palmarum 1940     Hagendorf, Pfr.“

Lehrer Brandis schrieb zur gleichen Zeit ein Zitat vom alten Fritz ein: „Es ist nicht notwendig, dass ich lebe, sondern dass ich meine Pflicht tue.“

 

Im Klassenzimmer 1940 hing groß das Bild vom Alten Fritz (auf einem Stuhl sitzend); darunter waren im Kleinformat in einem Rahmen zusammen Göring, Hitler und Goebbels zu sehen (das alles an der Rückwand); links daneben ein Bild von der Seeschlacht im Skagerrak im 1. Weltkrieg („1916 zwischen Deutschen und Engländern die größte Seeschlacht der Weltgeschichte... Der Erfolg lag auf deutscher Seite.“ Brockhaus 1927.); rechts daneben ein Bild von den Befreiungskriegen in unserer Gegend. An der Nordwand des Klassenzimmers hing eine Weltkarte wo man sehen konnte, wo überall Deutsche wohnen (die es zu befreien galt); über allen schwebte das Modell eines Zeppelins als Symbol für den technischen Fortschritt.

 

Im Jahre 1944 macht der Pfarrer (auf Heimaturlaub?) eine kritische politische Bemerkung über den Gartenzaun: Deshalb (oder wegen einer anderen Sache?) wird er inhaftiert (in Halle), ist bei Kriegsende deshalb nicht in Seyda, sondern wird von den Amerikanern befreit. Weil er nicht gleich zurück in die „russische Zone“ konnte, kam er erst 1946 nach Hause.

 

Am 20. Juli 1944 schlug ein Attentat auf Hitler fehl, viele Menschen, die im Widerstand gegen Hitler waren, wurden (wie auch viele vor ihnen) umgebracht. Dr. Goerdeler, früherer Oberbürgermeister von Leipzig, sollte nach der Beseitigung Hitlers Reichskanzler werden. Er konnte sich nach dem Attentat am 20. Juli 1944 für einige Tage im Gutshaus Gerbisbach verstecken, wurde dann aber für die ausgesetzte Belohnung von einer Million Reichsmark verraten und im Februar 1945 hingerichtet. (Däumichen, K.: Dr. Goerdeler verbarg sich im Dorf Gerbisbach bei Jessen. In: Heimatkalender 2.000, 114-117).

 

Im Herbst 1944 künden große Flüchtlingsströme auch durch Seyda das Ende des Krieges und den Zusammenbruch an. Ein Flüchtlingslager wurde am Schützenhaus eingerichtet. Tiefflieger beschießen die Bevölkerung. Immer mehr Bombenflüchtlinge aus Berlin kommen nach Seyda. Am Tage und in der Nacht kann man die Fliegerverbände sehen, die Dresden und Berlin anfliegen und die Städte in Schutt und Asche legen. Und viele, viele Männer sind gefallen: Eltern und Frauen bleiben allein, Kinder wachsen ohne Vater auf.

 

Seyda meldet einen guten Stand des Getreides, die Kartoffeln zeichnen sich durch Größe und reichen Ansatz aus, die Pflaumenbäume hängen zum Brechen voll.“ so meldet es das „Schweinitzer Kreisblatt“ im Sommer 1944.

 

Das Quellen- und Literaturverzeichnis befindet sich am Ende des letzten Bandes.